Einer meiner Söhne. Anna Katharine Green
ich ihr deutlich an, denn ihre Gesichtszüge nahmen einen ganz anderen Ausdruck an, als die Schritte des jungen Detektivs sich wieder hören ließen. Sie schien unwillkürlich zusammenzufahren und legte die Hand auf ihren Busen, wie wenn der gesuchte Gegenstand dort verborgen wäre und nicht in einer der Kammern unter dem Dach. Es war wie ein Zauber, der mich hinderte, meine Augen von ihrer Gestalt abzuwenden. Ich ärgerte mich über mich selber und wandte mich, einer plötzlichen Eingebung folgend, dem zur Rechten liegenden Empfangszimmer zu.
Aber schnell trat ich wieder zurück. Fräulein Meredith, deren Zuversicht, wie es schien, durch meine Gegenwart gestärkt wurde, hatte leise meinen Namen ausgesprochen.
Man hörte oben das Kind weinen, und sie hatte gebeten, zu ihm hinaufgehen zu dürfen; der Coroner hatte dies aber verweigert.
Ich eilte zu ihr und begann trotz Alfreds Stirnrunzeln eine Unterhaltung mit ihr. Sie möchte sich doch beruhigen und geduldig des Detektivs Rückkehr abwarten. Die Kleine hat ja ihren Vater, der bei ihr ist, so schloß ich meinen Zuspruch.
Aber sie schien nicht viel Trost darin zu finden. Aufgeregt rang sie die Hände und nahm sich erst dann mehr zusammen, als ihr Vetter, von dem Detektiv begleitet, wieder auf der Treppe erschien.
Dann nahm sie meinen ihr dargebotenen Arm. Sie bedurfte einer solchen Stütze, denn Todesangst lag in dem Blick, womit sie den Beamten empfing. Und dieser – nun, ich hatte den Mann nie vorher gesehen, aber als ich ihn langsam die Treppe herunterkommen sah, hatte ich das bestimmte Gefühl, er müßte das Gesuchte gefunden haben, und das leise raschelnde Stück Papier, das er in der Hand hielt, müßte das von Herrn Gryce für so außerordentlich wichtig erklärte sein.
Und ich hörte meine Vermutungen schnell bestätigt; denn als Sweetwater die letzte Treppenstufe betrat, murmelte sie:
»Ich hab's versucht – aber das Schicksal war gegen mich. Jetzt sehe ich klar und deutlich meine Pflicht vor mir.«
Hope Meredith beachtete ihren Vetter Leighton nicht, der jetzt zu seinen im Bibliothekzimmer wartenden Brüdern trat. Ich aber folgte ihm mit dem Blick, und ich sah zu meinem Kummer an seiner ganzen Haltung, daß der in der Dachkammer gemachte Fund von einer Bedeutung sein mußte, die die Aufregung des jungen Mädchens vollkommen rechtfertigte.
Sie haben gefunden, was Sie suchten! rief sie dem jungen Polizeibeamten hastig entgegen. Es war, als wäre ihr die Spannung mit einemmal unerträglich geworden, und als hätte sie jetzt keinen anderen Gedanken mehr, als der peinlichen Lage möglichst schnell ein Ende zu machen.
Sweetwater verzog auf eigentümliche Art das Gesicht. Sollte das ein Lächeln bedeuten? Ja, es war ein Lächeln. Dann übergab er das Papier, das er in der Hand hielt, dem Coroner.
Kommen Sie her, Gryce! rief der Beamte, nachdem er schnell einen Blick auf den Streifen geworfen hatte, und fragte ihn dann:
Was bedeutet nach Ihrer Meinung der Inhalt dieses Zettels?
Im Nu war der Detektiv an seiner Seite, und die beiden beugten sich über das Papier. Die Spannung erreichte jetzt einen fast unerträglichen Grad. Endlich sahen wir, wie der Detektiv die Fingerspitze auf eine Stelle der Schrift legte. Der Coroner las den Satz, und sein Gesicht drückte eine tiefe Bewegung aus.
Ah! rief er aus. Was bedeutet das?
Der Detektiv sprach leise einige Worte; dann nahm er den von mir in dem Umschlag überbrachten Streifen und hielt ihn an das in des Coroners Hand befindliche Stück Papier. Wir alle konnten sehen, daß es Teile eines Blattes waren.
Ich möchte noch feststellen, ob der Streifen zu dem in der Maschine gebliebenen Teil des Briefes ebenfalls paßt, sagte der Coroner, ohne die aufgeregten Blicke zu beachten, die von allen Seiten sich auf ihn richteten. Damit schritt er an uns vorüber auf den großen Tisch der Bibliothek zu und legte die drei Stücke aneinander. Unwillkürlich warf er dabei einen mitleidigen Blick auf die jungen Gillespies.
Lassen Sie's sehen! rief Alfred. Was steht in dem Brief? Wahrhaftig, diese Geheimtuerei ist schlimmer als meines Vaters Tod!
Wenn Fräulein Meredith mir erklären will, wie dieser mittlere Teil des Briefbogens in das Versteck der Dachkammer gelangt ist, so werde ich sofort Ihren Wunsch erfüllen, versetzte der Coroner.
Sie hatte keinen Blick auf den wieder zusammengefügten Briefbogen geworfen; jetzt antwortete sie frank und frei, und ohne weitere Umschweife zu versuchen:
Ich habe das Stück Papier selbst dorthin gebracht. Ich kam in meines Onkels Arbeitszimmer und sah ihn leblos auf dem Fußboden liegen. Sofort durchfuhr mich der Gedanke, der Tod könnte ihn ereilt haben, während er an der Schreibmaschine arbeitete. Ich eilte an den Tisch, hob den Wagen der Maschine hoch und las den Brief, um zu sehen, ob er nicht Anhaltspunkte böte, aus denen sich auf das plötzliche Ende meines Oheims schließen ließe. Und ich las – George, Alfred, Leighton! schrie sie mit einemmal heftig auf, indem sie sie mit einem Blick maß, vor welchem alle drei ihre stolzen Stirnen senkten – ich weiß nicht, wer von euch dreien die Last des Verbrechens auf seine Seele geladen hat. Aber einer von euch, einer, sage ich, steht unter dem Bann einer Anschuldigung, die sein leiblicher Vater gegen ihn erhoben hat. Leset!
Und mit zitterndem Finger wies sie auf die letzte Zeile des unvollendeten Briefes.
Ich füge eine getreue Wiedergabe desselben in der Form, in der er sich jetzt unseren Blicken darbot, an dieser Stelle ein:
Diese letzten Worte wurden von ihm selber geschrieben, als er die Wirkung des Giftes verspürte und den Tod herannahen fühlte! setzte sie leidenschaftlich hinzu. Widersprich mir, George! Widersprich mir, Leighton! Oder du, Alfred, wenn du kannst! O tut es! Für mich würde es neues Leben bedeuten – neue Kraft ...
Sie schwankte, sie vermochte kaum die Worte hervorzubringen. Offenbar war sie einer Ohnmacht nahe. Aber keine Hand erhob sich, kein Wort wurde laut. Die furchtbare Beschuldigung hatte sie alle sprachlos, bewegungslos gemacht.
Achtes Kapitel.
Plötzlich erhob sich eine Stimme zu leidenschaftlicher Beteuerung:
Hope! Hope! Ich war es nicht! – Und Alfred eilte mit einer fast flehenden Gebärde auf das junge Mädchen zu.
Eine dunkle Röte überflog Georges Antlitz, und er hob die Faust wie zum Schlage empor; Leighton ließ voll Scham – oder war es Schmerz? – sein Haupt sinken. Im nächsten Augenblick aber hatte er seinen zornigen Bruder am Handgelenk gepackt.
Hope Meredith hielt ihre Augen von den drei Brüdern abgewandt und sagte:
Nur mit einem von euch will ich sprechen – mit dem, der seine Brüder entlasten kann, indem er seine Schuld bekennt ... Rühre mich nicht an!
Dieser letzte Satz galt Alfred, dessen Hand sich nach ihrem Kleide ausgestreckt hatte.
Mit einem Ausdruck von Stolz, wie ich ihn bisher nicht an ihm bemerkt hatte, zog Herrn Gillespies jüngster Sohn sich von dem jungen Mädchen zurück und ging schweigend nach der entgegengesetzten Wand der Halle. Dann aber brach es auf einmal leidenschaftlich aus ihm hervor:
Du bist schnell mit deinem Verdacht bei der Hand! Für was hältst du uns? Genügt dir wirklich ein zusammenhangloser Satz am Ende eines von einem Gesunden begonnenen, aber von einem mit dem Tode Ringenden unvollständig zurückgelassenen Briefes – genügen dir wirklich vier solche Worte, um Männer von deinem eigenen Fleisch und Blut des Mordes zu beschuldigen? Von dir, Hope, würde ich nichts Böses glauben, und wenn selbst viel schwerer Wiegendes gegen dich spräche!
Es lag etwas Berechtigtes in diesem Vorwurf, und er machte daher nicht nur auf das junge Mädchen, sondern auf uns alle Eindruck. Die letzten Worte des Briefes konnten sehr vielsagend sein – vielleicht aber hatten sie gar keine Bedeutung. Wäre der Ruf der jungen Leute ein besserer gewesen, oder wäre der Versuch nicht gemacht worden, den betreffenden Teil des Briefbogens beiseite zu schaffen, so würden die Worte: »einer meiner Söhne hat ...« überhaupt keinen Verdacht erregt haben. Denn war dies wirklich eine Beschuldigung? George und Leighton erklärten mit aller Entschiedenheit, dieses sei ausgeschlossen, und auch Alfred stammelte mit einer Miene beleidigten Stolzes seinen Protest, als