Lourdes. Emile Zola

Lourdes - Emile Zola


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habe Hunger, sie wolle Fleisch und Brot haben, sie, die seit vierundzwanzig Jahren kaum gegessen hatte. Und sie stand auf und zog sich an, während ihre Tochter den Nachbarinnen, die sie für eine Waise hielten, als sie sie so erschüttert sahen, antwortete: ›Nein, nein! Mama ist nicht tot, Mama ist auferstanden!‹«

      Tränen waren Frau Vincent in die Augen getreten. Oh, wenn sie doch hätte sehen können, daß ihre kleine Rose wieder auflebte, mit gutem Appetit äße und fröhlich herumspränge! Ein anderer Fall, der eines jungen Mädchens, den man ihr in Paris erzählt und der viel zu ihrem Entschlusse, ihre kleine Kranke nach Lourdes zu bringen, beigetragen hatte, kam ihr wieder ins Gedächtnis. »Auch ich kenne die Geschichte einer Gelähmten, Lucie Druon, die in einem Waisenhause aufgezogen wurde und schon in ihrer frühesten Jugend nicht mehr niederknien konnte. Ihre Glieder waren ganz verkrümmt; ihr rechtes Bein war viel kürzer und hatte sich schließlich um das linke geschlungen. Wenn eine ihrer Gefährtinnen sie trug, so sah man die Beine wie abgestorben in der Luft herumbaumeln. Bemerken Sie wohl, daß sie nicht nach Lourdes gegangen ist. Sie hat einfach eine neuntägige Andacht gehalten. Aber während dieser neun Tage hat sie gefastet, und ihr Verlangen nach Heilung war ein so großes, daß sie sogar die Nächte im Gebet zubrachte. Am neunten Tage endlich, als sie etwas Wasser aus Lourdes trank, fühlte sie in ihren Beinen eine heftige Erschütterung. Sie stand auf und sank zurück, stand wieder auf und konnte gehen. Alle ihre Gefährtinnen waren erstaunt, beinahe erschreckt und riefen immerfort: ›Lucie geht! Lucie geht!‹ Und es war wahr, ihre Beine waren in wenigen Sekunden wieder gerade, gesund und kräftig geworden. Sie durchschritt den Hof, konnte in die Kapelle hinaufsteigen, wo die ganze Gemeinde mit dankerfülltem Herzen das Magnifikat sang ... Ach, das liebe Kind! Sie durfte glücklich sein, sehr glücklich!«

      Tränen rannen über ihre Wangen auf das bleiche Gesicht ihrer Tochter herab, das sie mit leidenschaftlichen Küssen bedeckte.

      Das Interesse nahm immer mehr zu, und die begeisterte Freude über diese schönen Erzählungen, in denen der Himmel über die menschliche Schwachheit triumphierte, regte diese kindlichen Seelen so sehr auf, daß die am schwersten Kranken von neuem auflebten und die Sprache wiederfanden. Hinter der Erzählung eines jeden verbarg sich die Beschäftigung mit seinem eigenen Leiden, das Vertrauen, daß auch er geheilt werden würde, da ja schon einmal eine gleiche Krankheit wie ein wüster Traum durch einen göttlichen Hauch vertrieben worden war.

      »Ah!« stammelte Frau Vêtu mit schmerzverzerrtem Munde, »da war auch eine, Antoinette Thardivail, deren Magen wie der meinige zerfressen war. Geschwülste bildeten sich so zahlreich, daß sie acht Monate hindurch Blut spie. Auch war sie dem Tode schon nahe, weil sie verhungerte. Ihre Haut lag wie festgeleimt auf den Knochen, bis sie Wasser aus Lourdes trank und sich damit die Magengrube waschen ließ. Drei Minuten später fand sie ihr Arzt, der sie am Abend vorher mit dem Tode ringend verlassen hatte, außerhalb des Bettes am Kamin sitzend, wie sie mit dem besten Appetit einen Hühnerflügel verspeiste. Sie hatte keine Geschwülste mehr, sie lachte wie mit zwanzig Jahren, und ihr Gesicht fing an, den strahlenden Glanz der Jugend wiederzubekommen. Ach, glücklich der, der essen kann, was er mag, der wieder jung wird, der nicht mehr leidet!«

      »Und die Heilung der Schwester Julienne!« sagte die Grivotte, die sich auf den Ellenbogen erhoben hatte und deren Augen im Fieber glühten. »Sie wurde, wie ich, von einem schlimmen Katarrh gequält und fing dann an, Blut zu speien. Alle sechs Monate bekam sie einen Rückfall und mußte sich ins Bett legen. Vergeblich hatte man es mit allen möglichen Arzneimitteln versucht, mit Jod, mit Zugpflastern und sonstigem. Endlich war es richtige Schwindsucht geworden, wie sechs Ärzte übereinstimmend erklärt hatten ... Gut! Da kommt sie nach Lourdes, Gott weiß, unter welchen Schmerzen und Leiden! In Toulouse stand es so schlimm mit ihr, daß man glaubte, sie würde sterben. Die Schwestern trugen sie auf ihren Armen. Am Quell wollten die Helferinnen sie nicht baden. Sie war wie tot ... Nun, man zog sie schließlich doch aus, man tauchte die ganz Bewußtlose und über und über mit Schweiß Bedeckte unter, zog sie ganz totenbleich wieder heraus und legte sie auf den Erdboden nieder, da man glaubte, es sei mit ihr zu Ende. Da röteten sich plötzlich ihre Wangen, ihre Augen öffneten sich und sie holte tief und kräftig Atem. Sie war geheilt, sie konnte sich allein wieder anziehen und aß tüchtig, nachdem sie vorher in die Grotte gegangen war, um der Heiligen Jungfrau zu danken ... Nun, das war doch gewiß eine Schwindsüchtige, und sie ist dennoch geheilt worden!«

      Dann wollte Bruder Isidor sprechen; aber er konnte nicht und begnügte sich daher, unter großer Anstrengung zu seiner Schwester zu sagen:

      »Martha, erzähle doch die Geschichte von der Schwester Dorothea, die uns der Kurat von SaintSauveur mitgeteilt hat.«

      »Schwester Dorothea«, begann die Bäuerin unbeholfen, »stand eines Morgens mit einem geschwollenen Beine auf. Von diesem Augenblicke an konnte sie das Bein nicht mehr gebrauchen. Es wurde kalt und schwer wie ein Stein. Dabei hatte sie große Schmerzen im Rücken. Die Ärzte verstanden nichts davon. Sie hatte ein halbes Dutzend um Rat gefragt, die sie mit Nadeln tief ins Fleisch stachen und ihr mit einer Menge Arzneimitteln die Haut verbrannten. Das war alles, was sie konnten ... Schwester Dorothea hatte bald eingesehen, daß allein die Heilige Jungfrau das richtige Heilmittel finden würde. So reiste sie denn nach Lourdes und ließ sich in den Weiher setzen. Zuerst glaubte sie, darin sterben zu müssen, denn es war so kalt. Dann aber wurde das Wasser weicher, so daß es ihr fast lauwarm vorkam und köstlich wie Milch. Noch niemals hatte sie etwas so Wohltuendes verspürt. Ihre Adern öffneten sich, und das Wasser drang hinein. Das Leben kehrte in ihren Körper zurück von dem Augenblicke an, da sich die Heilige Jungfrau in die Sache gemischt hatte ... Ihr fehlte von da an nicht das geringste mehr, sie ging spazieren, aß zum Abend eine ganze Taube und schlief die ganze Nacht hindurch wie eine Selige. Ruhm und Ehre der Heiligen Jungfrau! Ewige Dankbarkeit der allmächtigen Mutter und ihrem göttlichen Sohne!«

      Elise Rouquet hätte auch gar zu gern ein Wunder, das sie kannte, angebracht. Aber sie sprach wegen ihres entstellten Mundes so schlecht, daß sie bis jetzt noch nicht an die Reihe hatte kommen können. Als aber eine Pause entstand, benützte sie diese, nachdem sie das Tuch, das ihre entsetzliche Wunde verbarg, etwas zur Seite geschoben hatte.

      »Bei dem, was man mir erzählt hat, ist nicht von einer schweren Krankheit die Rede, aber die Geschichte ist sehr komisch ... Es handelt sich um eine Frau, Cölestine Dubois mit Namen, die sich beim Einseifen von Wäsche eine Nadel in die Hand gestochen hatte. Sieben Jahre lang blieb sie darin stecken, da kein Arzt imstande gewesen war, sie wieder herauszuziehen. Ihre Hand hatte sich ganz zusammengezogen, und sie konnte sie gar nicht mehr aufmachen. Sie kommt in Lourdes an, sie taucht die Hand in den Weiher. Aber sofort stößt sie einen Schrei aus und zieht sie wieder zurück. Mit Gewalt steckt man die Hand in das Wasser hinein und hält sie dort fest, während die Frau jammert und stöhnt und ihr Gesicht sich ganz mit Schweiß bedeckt. Dreimal tauchte man sie unter, und jedesmal sieht man, wie die Nadel wieder ein Stück weiter gewandert ist, bis sie endlich an der Spitze des Daumens zum Vorschein kommt ... Natürlich war ihr Schreien dadurch veranlaßt worden, daß die Nadel in dem Fleische vorwärtswanderte, als wenn sie von jemand gestoßen würde, um sie herauszubekommen ... Cölestine hat niemals mehr Schmerzen gehabt, und ihre Hand hat nur eine kleine Narbe behalten zu dem einzigen Zwecke, das Werk der Heiligen Jungfrau zu zeigen.«

      Diese Anekdote hatte noch mehr Wirkung als die Wunder der großartigen Heilungen. Eine Nadel, die vorwärtsdrang, gleich als wenn sie jemand gestoßen hätte! Das war eine Steigerung des Wunderbaren, das zeigte jedem Kranken seinen Schutzengel, der hinter ihm stand, bereit, ihm auf einen Wink des Himmels zu helfen. Dann wie reizend und wie kindlich war das, eine Nadel, die durch das wunderbare Wasser zum Wandern gebracht wurde, nachdem sie sieben Jahre ruhig auf einem Platze geblieben war! Und alle gaben ihrer Freude lauten Ausdruck und lachten vor Vergnügen und strahlten vor Glück, daß dem Himmel nichts unmöglich war, daß sie alle, wenn der Himmel wolle, gesund, jung und glücklich würden. Es genügte, zu glauben und innig zu beten, damit die Natur verstumme und das Unglaubliche sich verwirkliche.

      »Oh, Vater, wie schön ist das!« flüsterte Marie, durch die Erregung neu belebt und stumm vor Ergriffenheit. »Du erinnerst dich noch an das, was du mir selbst erzählt hast von jener Joachine Dehaut, die aus Belgien gekommen war und ganz Frankreich durchquert hatte mit ihrem verkrüppelten, von Geschwüren bedeckten Beine. Zuerst wurde das Geschwür


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