Lourdes. Emile Zola

Lourdes - Emile Zola


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stiftete in einer heiligen Stadt, mit einem Male um Millionen erbaut und überschwemmt von gläubigen Menschenmassen, wie man sie seit der Zeit der Kreuzzüge nicht mehr gesehen hatte?

      Er las nicht weiter vor, sondern erzählte das, was er wußte, das, was er erraten und sich selbst hinzugedacht hatte. Er kannte das Land, die Sitten und die Gebräuche sehr genau, dank der langen Gespräche, die er mit seinem Freunde, dem Doktor Chassaigne, darüber geführt hatte. Er besaß eine wohltuende Leichtigkeit des Sprechens und ein durch und durch reines Feuer aufrichtiger Begeisterung, Gaben, die er schon vom Seminar her in sich fühlte, ohne daß er jemals Gebrauch davon gemacht hätte. Als man in dem Wagen sah, daß er die Geschichte viel besser und viel ausführlicher kannte als das kleine Buch, und daß er sie mit einer so begeisterten Stimme vortrug, steigerte sich die Aufmerksamkeit von neuem, und die schmerzensreichen Gemüter, die nach Glück dürsteten, gaben sich ihm mit ganzer Seele hin.

      Zuerst kam die Kindheit Bernadettes, die sie in Bartrès verbracht hatte. Sie war dort bei ihrer Amme, der Frau Lagûes, die, nachdem ihr neugeborenes Kind gestorben war, den Soubirous' die Gefälligkeit erwiesen hatte, ihr Kind zu nähren und bei sich zu behalten. Dieses Dorf von vierhundert Seelen lag eine Meile von Lourdes entfernt, weit ab von allen Verkehrswegen, mitten im Grünen verborgen. Der Weg führte steil abwärts, die wenigen Häuser standen in ziemlicher Entfernung voneinander, mitten auf Grasflächen, die mit Walnuß und Kastanienbäumen bepflanzt waren, während klare Bäche, die niemals schwiegen, den Abhängen plätschernd folgten. Die kleine, alte, romanische Kirche stand, alles beherrschend, auf einem mit den Gräbern des Friedhofes bedeckten Hügel. Nach allen Seiten steigen bewaldete Abhänge wellenförmig empor. Das Dörfchen ist wie ein Loch in dem blühenden Pflanzenteppich voll köstlichen Wohlgeruchs und tiefen Grüns. Bernadette, die, nachdem sie ein großes Mädchen geworden war, ihren Unterhalt damit bezahlte, daß sie die Schafe hütete, führte diese monatelang auf den waldigen Abhängen umher, ohne daß sie einer menschlichen Seele begegnete. Nur zuweilen erblickte sie von dem Gipfel eines Hügels den Pic du Midi oder den Pic de Viscos. Sie sah auch, wie andere, in Dunst gehüllte Berge sich riesenhaft vergrößerten und zu unklaren und verschwommenen Erscheinungen wurden. Das Haus der Lagûes war ein einsames, stilles Haus, das letzte im Dorfe. Eine Wiese breitete sich davor aus, bepflanzt mit Apfel und Birnbäumen. In dem niedrigen und feuchten Hause befanden sich zur Rechten und Linken der Holztreppe, die auf den Speicher führte, zwei große, mit Steinplatten belegte Räume, deren jeder vier bis fünf Betten enthielt. Die kleinen Mädchen schliefen zusammen und schlummerten jeden Abend in der Betrachtung der schönen, an die Wand geklebten Bilder ein, während die große Uhr in ihrem Gehäuse aus Tannenholz mit ernsten Schlägen in der tiefen Stille die Stunden ankündigte.

      Ach, diese Jahre in Bartrès, in welch seligem Entzücken hatte Bernadette sie verlebt! Sie wuchs nur langsam und war immer krank, da sie an nervösem Asthma litt, das sie bei dem geringsten Wehen des Windes zu ersticken drohte. Im Alter von zwölf Jahren konnte sie weder lesen noch schreiben und sprach nur den Dialekt der Umgegend. Sie war ein gutes kleines Mädchen, sehr sanft und sehr artig, im übrigen ein Kind wie jedes andere, nur nicht schwatzhaft. Sie liebte es vielmehr, zuzuhören als selbst zu reden. Obgleich sie nicht begabt war, zeigte sie natürlichen Verstand und hatte sogar bisweilen eine schlagfertige Antwort bei der Hand, ein einfaches Scherzwort, das Lachen verursachte. Man hatte unendliche Mühe gehabt, ihr den Rosenkranz beizubringen. Als sie ihn endlich auswendig wußte, schien sie ihr ganzes Wissen darauf beschränken zu wollen. Sie sagte ihn während des ganzen Tages, vom Morgen bis zum Abend, her, so daß man sie schließlich bei ihren Schafen nur noch mit dem Rosenkranz in der Hand antraf, die Pater und Aves betend. Wie viele Stunden hatte sie so auf den grasigen Abhängen der Hügel verlebt, umwogt von dem geheimnisvollen Rauschen der Blätter, während sie von der Welt nichts weiter sah als nur auf kurze Augenblicke in weiter Ferne die höchsten Gipfel der Berge, in strahlendes Licht getaucht, wie ein Traumbild rasch entschwindend. Die Tage schwanden dahin, und immer begleitete sie bei ihrem Herumziehen der engbegrenzte Traum, das einzige Gebet, das sie fortwährend wiederholte und welches ihr keine andere Gefährtin und Freundin gab als die Heilige Jungfrau mitten in dieser frischen, kindlichnaiven Einsamkeit. Welch schöne Abende verlebte sie dann während des Winters in dem saalartigen Raume links von der Treppe, in dem ein Feuer brannte! Ihre Amme hatte einen Bruder, der Priester war und ihnen manchmal wunderbare Geschichten vorlas, Geschichten von heiligen Männern und Frauen, von ungeheuerlichen Abenteuern, die einen vor Angst und Freude zittern machten, von Erscheinungen des Paradieses auf der Erde, während der halbgeöffnete Himmel den Glanz der Engel offenbarte. Die Bücher, die er mitbrachte, waren oft voll von Bildern, sie zeigten den lieben Gott in seiner ganzen Glorie, die zarte und freundliche, lichtumflossene Gestalt Jesu Christi, vor allem aber die Heilige Jungfrau, die immer wiederkehrte, glänzend und weiß, azurblau und gold gekleidet. Die Bibel war das Buch, das man am fleißigsten las, eine alte, vergilbte Bibel, die sich seit hundert Jahren in der Familie vererbt hatte. An jedem Spinnstubenabend nahm der Pflegevater, der lesen gelernt hatte, eine Nadel, steckte sie auf gut Glück in die Bibel und fing dann oben zu lesen an unter der gespannten Aufmerksamkeit der Frauen und Kinder, die schließlich den Text auswendig wußten und hätten fortfahren können, ohne sich um ein Wort zu irren.

      Bernadette zog die frommen Bücher vor, in denen die Heilige Jungfrau mit ihrem Lächeln vorkam. Doch fand sie auch Gefallen an einer andern wunderbaren Geschichte, an der von den vier Haimonskindern. Auf dem gelben Einbande des Buches sah man in einem naiven Stiche die vier ritterlichen Helden, Renaud und seine Brüder, die alle vier zusammen auf Bayard, ihrem berühmten Schlachtroß, saßen, mit dem sie einst von der Fee Orlande königlich beschenkt worden waren. Ferner erblickte man die Erbauung und Belagerung von Festungen, blutige Kämpfe, schreckliche Gefechte zwischen Roland und Renaud, der endlich auszog, das Heilige Land zu befreien, nicht zu vergessen den Zauberer Maugis mit seinen wunderbaren Zauberkünsten, und die Prinzessin Clarisse, die Schwester des Königs von Aquitanien, die schöner war als der Tag. Wenn ihre Einbildungskraft erregt war, kostete es Bernadette zuweilen viel Mühe, einzuschlafen, besonders an den Abenden, an denen man die Bücher beiseiteließ und einer von den Anwesenden eine Hexengeschichte erzählte. Sie war sehr abergläubisch, und man hätte sie niemals dazu bringen können, nach Sonnenuntergang an einem Turme in der Nachbarschaft vorüberzugehen, den der Teufel öfters besuchen sollte. Die ganze Gegend war sehr fromm und einfältig und wimmelte von Geheimnissen, von Bäumen, welche sangen, von Steinen, aus denen Blut perlte, von Kreuzwegen, an denen man drei Vaterunser und drei Aves beten mußte, wenn man nicht dem wilden Tiere mit den sieben Hörnern begegnen wollte, das die Mädchen ins Verderben schleppte. Und welcher Reichtum an Märchen! Es gab deren Hunderte, man würde an einem Abend damit gar nicht fertig geworden sein. Zuerst kamen die Abenteuer der Werwölfe, jener unglücklichen Menschen, die von dem Teufel gezwungen werden, in eine Hundehaut zu fahren, in die Haut eines jener großen weißen Berghunde. Wenn man auf den Hund einen Flintenschuß abgibt und wenn eine einzige Kugel ihn trifft, so ist der Mensch erlöst. Wenn die Kugel aber nur den Schatten trifft, dann stirbt der Mensch sofort. Dann folgten die Zauberer und die Hexen. Eine dieser Geschichten hörte Bernadette leidenschaftlich gern, die eines Gerichtsschreibers von Lourdes, der den Teufel sehen wollte, und den eine Zauberin am Karfreitag um Mitternacht auf ein ödes Feld führte. Der Teufel kam, prächtig in Rot gekleidet. Sofort machte er dem Gerichtsschreiber den Vorschlag, seine Seele zu kaufen, worauf jener scheinbar einging. Der Teufel trug unter seinem Arme das Register, in dem die Leute der Stadt eingezeichnet waren, die sich ihm schon verkauft hatten. Aber der schlaue Schreiber zog aus seiner Tasche ein Fläschchen heraus, in dem sich angeblich Tinte befinden sollte, während es nichts anderes als eine Flasche geweihten Wassers war. Er besprengte damit den Teufel, der entsetzliche Schreie ausstieß, während der Schreiber selbst die Flucht ergriff und das Register mitnahm. Dann begann eine tolle Jagd, deren Beschreibung den ganzen Abend hätte in Anspruch nehmen können, eine Jagd über die Berge, durch Täler, durch Wälder, durch Wildbäche. »Gib mir das Register wieder!« – »Nein, das wirst du nicht wiederbekommen.« Und dieses kurze Zwiegespräch fing immer von neuem an. »Gib mir das Register wieder!« – »Nein, das wirst du nicht wiederbekommen!« Dem Gerichtsschreiber, der schon ganz atemlos und nahe daran war, zu unterliegen, kam endlich ein rettender Gedanke: er warf sich auf den Kirchhof in geweihte Erde und verspottete von dort aus den Teufel, indem er das Register lustig hin und her schwenkte. Auf diese Weise hatte er die Seelen all der Unglücklichen gerettet, die darin verzeichnet standen.


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