Lourdes. Emile Zola
von Kirchen und Wallfahrt von Gläubigen! Gleichartig sind auch alle vom Himmel gesprochenen Worte, Ermahnungen zur Buße und Verheißungen der göttlichen Hilfe. Hier war etwas Neues hinzugekommen, nämlich die außerordentliche Erklärung: »Ich bin die Unbefleckte Empfängnis!«, die wie die nützliche Anerkennung des Dogmas von Seiten der Heiligen Jungfrau selbst klang, des Dogmas, das drüben am päpstlichen Hofe drei Jahre vorher verkündet worden war. Es war nicht die unbefleckte Jungfrau, die erschienen war, sondern die Unbefleckte Empfängnis, die Abstraktion selbst, die Sache, das Dogma. Daß Bernadette die anderen Worte gehört und in einem unbewußten Winkel ihres Gedächtnisses bewahrt hatte, war möglich. Woher aber stammte denn dieses Wort, daß es dem noch umstrittenen Dogma den gewaltigen Beistand des Zeugnisses der Mutter, die ohne Sünde empfangen hat, lieh? Pierre, der von der vollkommenen Glaubwürdigkeit der Bernadette überzeugt war, der sich dagegen wehrte, sie für das Werkzeug eines Betruges anzusehen, wurde von Unruhe gepeinigt, und sein klares Denken verwirrte sich, da er fühlte, daß seine These ins Schwanken geriet.
In Lourdes war ungeheure Aufregung. Scharen von Menschen strömten herbei, Wunder fingen an zu geschehen, während die unvermeidlichen Verfolgungen nicht ausblieben, die den Triumph der neuen Glaubenssätze bestätigten. Der Kurat von Lourdes, Abbé Peyramale, ein gelehrter, ehrenwerter Mann mit rechtschaffenem Sinne und gesundem Verstande, konnte mit vollem Recht sagen, er kenne dieses Kind gar nicht, da er es noch niemals im Katechismusunterricht gesehen habe. Wo war also die treibende Kraft, die eingelernte Lektion? Es lag nichts anderes vor als die in Bartrès verlebte Kindheit, der erste Unterricht durch den Abbé Ader, vielleicht Gespräche, religiöse Zeremonien zur Ehre des neuen Dogmas oder eine Medaille, wie man sie in Unmengen verbreitet hatte. Niemals durfte der Abbé Ader sich zeigen, der die Mission der Seherin prophezeit hatte. Er sollte der Geschichte der Bernadette fernbleiben, nachdem er der erste gewesen war, der gemerkt hatte, wie diese kleine Seele unter seinen frommen Händen sich zu regen anfing. Die unbekannten Kräfte des weltverlorenen Dorfes, dieses grünen Erdenwinkels, voll von Beschränktheit und Aberglauben, fuhren fort, sich geltend zu machen, indem sie die Sinne verwirrten und die ansteckende Krankheit des Mysteriums verbreiteten. Man erinnerte sich, daß ein Schäfer von Argelès bei einem Gespräche über den Felsen von Massabielle vorausgesagt hatte, daß sich große Dinge dort ereignen würden. Kinder gerieten in Verzückung, wobei ihre Glieder von Krämpfen geschüttelt wurden. Aber sie sahen den Teufel. Ein Wahnsinnsrausch schien die ganze Gegend gepackt zu haben. In Lourdes erklärte eine alte Dame, Bernadette sei nichts als eine Hexe. Sie habe den Krötenfuß in ihrem Auge gesehen. Für die anderen, für die Tausende der herbeigeströmten Pilger war sie eine Heilige, deren Kleider sie küßten. Lautes Schluchzen ertönte und eine wilde Glaubensraserei bemächtigte sich aller Seelen, wenn sie vor der Grotte auf die Knie niederfiel, in der rechten Hand eine brennende Kerze haltend, während sie durch ihre linke Hand die Perlen ihres Rosenkranzes im Gebete gleiten ließ. Sie wurde dann sehr blaß, sehr schön und wie verklärt. Langsam kam Leben in ihre Züge. Sie nahmen einen Ausdruck ungewöhnlicher Seligkeit an, während sich ihre Augen mit Glanz füllten und der halbgeöffnete Mund sich bewegte, als wenn er Worte aussprechen wollte, die niemand hören konnte. Es stand fest, daß sie nicht mehr ihren eigenen Willen hatte, daß ihr Traum sie ganz erfüllte, so daß sie ihn selbst im wachenden Zustand fortträumte, daß sie ihn für die unanfechtbare Wirklichkeit ansah, bereit, diese um den Preis ihres Lebens zu bekennen, sie immer wiederholend und so mit allen Einzelheiten in ihren Gedanken festhaltend. Sie log nicht, denn es lag ihr fern, etwas anderes zu wollen, sie konnte es gar nicht und wollte es auch gar nicht.
Pierre vergaß sich jetzt und entwarf ein reizendes Bild von dem alten Lourdes, dem kleinen, frommen Städtchen, das am Fuße der Pyrenäen schlummerte. Früher war das Schloß, auf einem Felsen am Kreuzungspunkt der sieben Täler des Lavedan gelegen, der Schlüssel der Berge. Jetzt aber ist es geschleift und nur noch ein altes Mauerwerk am Eingange eines engen Tales. Hier stieß das moderne Leben gegen die furchtbare Mauer der gewaltigen schneebedeckten Bergriesen. Nur die transpyrenäische Eisenbahn würde, wenn man sie erbaut hätte, etwas Bewegung in das Leben gebracht haben, das in diesem weltverlorenen Winkel träumte. Von der Welt vergessen, schlummerte Lourdes glücklich und träge in seinem jahrhundertelangen Frieden mit seinen engen Straßen, mit seinen schwarzen Häusern und seiner marmornen Umrahmung. Die alten Häuser gruppierten sich um den östlichen Fuß des Schloßberges, die Straße nach der Grotte, die Rue du Bois hieß, war ein verlassener, unbefahrbarer Weg. Die Häuser gingen nicht bis zum Gave hinunter, der damals seine schäumenden Wellen durch eine tiefe Einsamkeit von Weiden und hohen Gräsern rollte. Auf der Place du Marcadal sah man selten Menschen, Hausfrauen, die rasch dahineilten oder kleine Rentner, die ihre Mußezeit zum Spazierengehen verwendeten. Man mußte warten, bis ein Sonntag oder die Meßzeit kam, um auf dem Gemeindeplatz die sonntäglich gekleidete Bevölkerung zu finden. Während der Badesaison brachten die Badegäste von Cauterets und Bagnères etwas Leben. Zweimal täglich passierten Postwagen die Stadt. Sie kamen auf einem abscheulichen Wege von Pau und mußten den Lapaca, der oft über seine Ufer trat, auf einer Furt durchfahren. Dann ging es den steilen Abhang der Rue Basse hinauf und an der Terrasse entlang, auf der die von hohen Ulmen beschattete Kirche lag. Tiefer Friede herrschte in dieser alten Kirche. Sie war in spanischem Stile erbaut und angefüllt mit alten Skulpturen, Säulen, Bildern und Statuen, bevölkert von goldumwobenen Visionen und von alten Wandbildern, die im Laufe der Zeit so verblichen waren, daß man sie nur wie im Schimmer mystischer Lampen sah. Von der Bevölkerung wurde sie viel besucht, Ungläubige gab es nicht; das Volk hatte seinen Glauben bewahrt. Jede Zunft scharte sich um die Fahne ihres Heiligen; Bruderschaften aller Art vereinigten die ganze Stadt an Feiertagen zu einer einzigen christlichen Familie, Große Sittenreinheit herrschte, einer wunderbaren Blume gleich, die in einer auserlesenen Vase emporgesproßt war. Die jungen Männer fanden keine Gelegenheit, sich, zu vergessen, denn alle jungen Mädchen wuchsen in dem Dufte und der Schönheit der Unschuld unter den Augen der Heiligen Jungfrau auf.
So begreift man, daß Bernadette, eine Tochter dieser frommen Gegend, emporblühte wie eine natürliche Rose; die an den wilden Rosenstöcken am Wegesrande sich entfaltet. Sie war die Blüte dieses Landes altväterlichen Glaubens und altväterlicher Ehrbarkeit. Sie konnte nur dort entstehen. Sie konnte sich nur dort so entwickeln in dem friedlichen Schlummer eines noch im Kindesalter stehenden Volkes unter der moralischen Zucht der Kirche. Und welche Liebe war sofort für sie aufgeflammt, welch blinder Glaube an ihre Sendung, welch unermeßlicher Trost und welche Hoffnungen seit den ersten Wundern! Lauter Jubel der Erleichterung begrüßte die Heilung des alten Bourriette, der sein Augenlicht wieder bekam, und des kleinen Justin Bouhohorts, der in dem eisigen Wasser des Brunnens wieder zum Leben erwachte. Die Heilige Jungfrau trat ins Mittel zugunsten der Verzweifelten und zwang die Rabenmutter Natur, gerecht und barmherzig zu sein. Es war die neue Herrschaft der göttlichen Allmacht, die die Gesetze der Welt umstürzte zum Heile für die Leidenden und für die Armen. Die Wunder vermehrten sich; sie wurden von Tag zu Tag immer außerordentlicher und leuchteten hell und klar als unanfechtbare Beweise der Wahrhaftigkeit der Bernadette.
Pierre war bis dahin gekommen. Er erzählte von neuem die Wunder und wollte eben in seinem Berichte über den Triumph der Grotte fortfahren, als Schwester Hyacinthe plötzlich aus der Verzauberung aufwachte, in der sie die Erzählung gefesselt hielt und rasch aufstand.
»Das ist aber wirklich nicht mehr vernünftig ... Es wird jetzt bald elf Uhr schlagen.«
Es war richtig, man hatte schon Morceux passiert und kam nach MontdeMarsan. Schwester Hyacinthe klatschte in ihre Hände.
»Ruhe, meine Kinder, Ruhe!«
Diesmal wagte man nicht zu widersprechen, denn sie hatte recht, es war nicht mehr vernünftig. Aber wie sehr bedauerte man es, daß man mitten in der schönen Geschichte stehenbleiben mußte. Die zehn Frauen in der letzten Abteilung ließen sogar ein Murmeln des Mißfallens laut werden, während die Kranken mit gespanntem Gesicht noch immer zuzuhören schienen. Die Wunder, die ohne Unterbrechung aufeinander folgten, erfüllten sie mit unendlicher, überirdischer Freude.
»Daß ich also jetzt keine einzige Silbe mehr höre!« fügte die Nonne in scherzendem Tone hinzu; »sonst müßte ich strafen.«
Frau von Jonquière lächelte freundlich und sagte:
»Seid folgsam, meine lieben Kinder! Schlaft, schlaft ruhig, damit ihr morgen