Lourdes. Emile Zola
Beim Anblick der Menschenmenge trug Frau Vincent Bedenken, mit der teuren Last in ihren Armen weiterzugehen. Als sich der Bahnhof etwas leerte, wagte sie es. Wie schrecklich wäre es gewesen, wenn sie in diesen Pfützen, in diesem Stockdunkel mit dem Kinde zu Fall gekommen wäre! Als sie die Straße erreichte, bemerkte sie dort Gruppen von Frauen aus der Gegend, die den Fremden Wohnungen mit oder ohne Beköstigung, je nach ihrem Geldbeutel, anboten.
»Liebe Frau«, fragte sie ein altes Weib, »welches ist der Weg zu der Grotte, bitte?«
Die Frau gab ihr keine Antwort, sondern bot ihr nur ein Zimmer an.
»Alles ist besetzt; Sie werden nichts mehr in den Hotels finden ... Vielleicht werden Sie noch etwas zu essen bekommen, aber sicherlich nicht das kleinste Loch zum Schlafen.«
Essen, schlafen, oh, mein Gott! Wie durfte Frau Vincent daran denken mit dreißig Sous in der Tasche.
»Liebe Frau, bitte, welches ist der Weg nach der Grotte?«
Unter den Frauen, die an der Straße warteten, befand sich auch ein großes und starkes Mädchen in sauberer Kleidung, mit sehr einnehmendem Gesicht und gepflegten Händen. Sie zuckte mit den Schultern. Als ein Priester vorüberging mit breiter Brust und gesundheitstrotzendem Gesichte, stürzte sie auf ihn zu und bot ihm ein möbliertes Zimmer an. Unablässig folgte sie ihm, indem sie ihm fortwährend in die Ohren zischelte.
»Gehen Sie diesen Weg hinunter«, sagte schließlich ein anderes Mädchen, das mit der armen Frau Vincent Mitleid fühlte, »dann wenden Sie sich nach rechts und kommen so zu der Grotte.«
Auf dem Bahnsteig dauerte das Gedränge fort. Nachdem die gesunden Pilger und die Kranken, die gehen konnten, den Bahnsteig geräumt hatten, befanden sich die Schwerkranken noch dort, deren Transport viel Mühe verursachte.
Berthaud, der gefolgt von Gérard, lebhaft gestikulierend vorüberging, bemerkte in der Nähe einer Gaslaterne zwei Damen und ein junges Mädchen, die zu warten schienen. Er erkannte sofort Raymonde und hielt seinen Begleiter mit einer lebhaften Handbewegung zurück.
»Ah, mein gnädiges Fräulein! Wie glücklich bin ich, Sie wiederzusehen! Ihre Frau Mama befindet sich doch wohl, und Sie haben eine angenehme Fahrt gehabt, nicht wahr?«
Dann fügte er, ohne zu warten, hinzu:
»Mein Freund, Herr Gérard de Peyrelongue.«
Raymonde sah den jungen Mann mit ihren hellen Augen fest an.
»Oh, ich habe das Vergnügen, den Herrn zu kennen. Wir sind bereits früher in Lourdes zusammengetroffen.«
Gérard, der fand, daß sein Vetter Berthaud sehr eigenmächtig verfuhr, begnügte sich, eine sehr höfliche Verbeugung zu machen.
»Wir erwarten Mama«, nahm das junge Mädchen wieder das Wort. »Sie ist sehr beschäftigt, da sie sehr schwere Kranke hat.«
Die kleine Frau Desagneaux mit ihrem reizenden Kopfe und ihrem wirren blonden Haar erhob Einspruch und sagte, es geschähe der Frau von Jonquière ganz recht, da sie die ihr angebotenen Dienste zurückgewiesen hätte. Sie brannte vor Begierde, sich nützlich zu machen, während Frau Yolmar sich bescheiden und still im Hintergrunde hielt und nicht das geringste Interesse zeigte. Sie suchte nur mit ihren Augen, in denen ein Vulkan glühte, die Finsternis zu durchdringen, als ob sie jemand erwartete.
In diesem Augenblicke entstand ein großer Auflauf. Man trug Frau Dieulafay aus ihrer Wagenabteilung erster Klasse, und Frau Desagneaux konnte einen mitleidigen Klageruf nicht unterdrücken.
»Ach! Die arme Frau!«
Es war herzzerreißend, diese junge Frau zu sehen, wie sie in ihren Spitzengewändern in einem Sarge lag, in solch jämmerlichem Zustande, daß sie ein Stück Nichts zu sein schien. Sie wartete auf dem Bahnsteig, bis man sie forttragen würde. Ihr Gatte und ihre Schwester blieben bei ihr, beide sehr elegant und sehr traurig, während ein Diener und eine Kammerfrau mit den Gepäckstücken forteilten, um sich zu versichern; ob der Wagen, den man bestellt hatte, auch wirklich im Hofe hielt. Auch der Abbé Judaine stand bei der Kranken, und als zwei Männer sie emporhoben, beugte er sich zu ihr nieder, nahm von ihr Abschied und sagte ihr noch einige freundlich tröstende Worte, die sie aber nicht zu verstehen schien. Als er sah, wie man sie forttrug, fügte er, zu Berthaud gewendet, hinzu:
»Die armen Leute! Wenn sie doch nur die Heilung kaufen könnten! Ich habe ihnen aber gesagt, daß bei der Heiligen Jungfrau das Gebet für das kostbarste Gold gelte. Ich bin der festen Hoffnung, auch selbst genug gebetet zu haben, um den Himmel zu rühren ... Sie bringen aber trotzdem ein großartiges Geschenk mit, eine goldene Laterne für die Basilika, ein wahres Wunderwerk, mit wertvollen Steinen besetzt ... Möge sie die unbefleckte Maria eines Lächelns würdigen!«
Da kam Frau von Jonquière. Als sie Berthaud und Gérard bemerkte, rief sie: »Ich bitte Sie dringend, meine Herren, gehen Sie schleunigst zu dem Wagen, der dort ganz in der Nähe hält. Man hat dort Männer nötig, denn man muß drei oder vier Kranke herausholen ... ich bin ganz verzweifelt, ich kann nicht mehr.«
Gérard eilte sofort hinweg, nachdem er Raymonde gegrüßt hatte, während Berthaud der Frau von Jonquière den guten Rat erteilte, mit ihrer Tochter und den beiden anderen Damen sofort wegzufahren und nicht länger auf dem Bahnsteig zu bleiben. Er versicherte, daß man sie durchaus nicht mehr nötig hätte, daß er alles übernehmen wolle, und daß sie, noch bevor drei Viertelstunden vergangen wären, ihre Kranken im Hospital in dem ihrer Obhut anvertrauten Saale finden würde. Sie gab nach und nahm zusammen mit Raymonde und der Frau Desagneaux Abschied. Im letzten Augenblick war Frau Volmar verschwunden. Man glaubte gesehen zu haben, wie sie an einen unbekannten Herrn herangetreten war, ohne Zweifel, um ihn über etwas um Auskunft zu bitten. Man würde sie ja wohl im Hospital wiederfinden.
Vor dem Wagen traf Berthaud mit Gérard zusammen, als dieser mit Hilfe zweier anderen Kameraden sich abmühte, Herrn Sabathier aus dem Wagen zu helfen. Das war ein hartes Geschäft. Denn er war sehr dick, sehr schwer, und man glaubte, er würde kaum durch die Tür zu bringen sein. Zwei Träger mußten bei der andern Tür einsteigen und nachhelfen. So gelang es endlich, ihn auf den Bahnsteig zu bringen. Die ohnmächtig gewordene Grivotte lag schon auf einer Matratze. Man wartete für sie auf eine Tragbahre, während man die von einem heftigen Anfall ergriffene Frau Vêtu an einer Gaslaterne hatte niedersetzen müssen. Sie litt derart, daß man sie kaum zu berühren wagte. Pfleger mit Handschuhen an den Händen rollten unter allerlei Schwierigkeiten ihre kleinen Wagen weg. Wieder andere konnten mit ihren Tragbahren, auf denen starre Leiber sich streckten, kaum von der Stelle kommen, sich kaum einen Weg bahnen, indessen einige Kranke es versuchten, sich durchzuwinden, so ein junger, hinkender Priester und ein kleiner Knabe mit Krücken, buckelig und mit einem amputierten Bein, der sich, einem Gnom ähnlich, hinschleppte. Um einen Mann herum hatte sich eine Gruppe gebildet. Eine Lähmung hatte ihn derart verkrüppelt, daß man ihn, die Füße und den Kopf nach unten, auf einem umgekehrten Tragsessel transportieren mußte.
Der Wirrwarr erreichte seinen Höhepunkt, als der Bahnvorstand herbeistürzte und rief:
»Der Expreßzug von Bayonne ist angemeldet. Beeilen wir uns! Beeilen wir uns! Ihr habt nur noch drei Minuten Zeit!«
Der Pater Fourcade blieb am Arm des Doktors Bonamy im Gewühl und sprach den Kranken mit freundlicher Miene Mut zu. Mit einer Gebärde rief er Berthaud heran und sagte zu ihm:
»Lasset sie zuerst alle aussteigen. Ihr könnt sie hernach forttragen.«
Der Rat war voll Klugheit. Man brachte die Ausladung auf den Bahnsteig zu Ende. Im Wagen befand sich nur noch Marie, die geduldig wartete. Endlich erschienen Herr von Guersaint und Pierre mit den Rädern. Pierre half dem jungen Mädchen, von Gérard unterstützt, in Eile heraus. Sie hatte die Leichtigkeit eines armen frierenden Vogels. Die Männer legten ihre Trage auf die Räderpaare und befestigten diese mit Bolzen. Pierre hätte sodann Marie wegführen, sie augenblicklich fortrollen können, wenn ihn nicht die Menge, die den Weg versperrte, daran gehindert hätte.
»Beeilen wir uns! Beeilen wir uns!« wiederholte der Bahnhofsvorstand.
Er half selbst mit, hielt dort