Lourdes. Emile Zola

Lourdes - Emile Zola


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anzufassen. Dabei war jeden Augenblick die Ankunft des Expreßzuges zu erwarten. Man mußte die Tür wieder schließen und den Zug auf ein Nebengeleise führen, wo er stehenbleiben und drei Tage lang warten sollte, bis er seine Ladung von Pilgern und Kranken wieder aufnahm. Während sich der Zug entfernte, hörte man die Schreie der Unglücklichen, die mit einer Ordensschwester hatten drin bleiben müssen, Schreie, die immer schwächer wurden, wie die Schreie eines kraftlosen Kindes, das man endlich beschwichtigt!

      »Guter Gott!« murmelte der Stationsvorstand, »das war höchste Zeit!«

      In der Tat lief der Expreßzug von Bayonne ein und fuhr mit Blitzesschnelle an diesem jammervollen Bahnsteig vorüber, auf dem das Elend eines in allgemeiner Verwirrung begriffenen Spitals sich ausbreitete.

      Nach und nach wurde es heller, ein lichtes Morgenrot färbte den Himmel, dessen Widerschein die dunkle Erde erleuchtete. Man fing an, die Leute und Dinge zu unterscheiden.

      »Nein, nicht jetzt!« sagte Marie zu Pierre. »Wir wollen warten, bis die Flut sich ein wenig verlaufen hat.«

      Ein ungefähr sechzig Jahre alter Mann von militärischem Aussehen, der unter den Kranken herumschlenderte, fesselte seine Aufmerksamkeit. Mit seinem viereckigen Kopf und den weißen, bürstenähnlich geschnittenen Haaren würde er noch rüstig ausgesehen haben, wenn er nicht den linken Fuß nachgezogen hätte. Mit der Hand stützte er sich fest auf einen dicken Rohrstock.

      Herr Sabathier, der seit sechs Jahren hierherkam, bemerkte ihn und rief lebhaft:

      »Ah! Sie sind es, Herr Hauptmann!«

      Vielleicht hieß er Hauptmann. Vielleicht hatte er auch nur diesen Titel wegen seiner Ordensauszeichnung. Er war dekoriert und trug ein breites rotes Band. Niemand kannte seine Geschichte. Er befand sich schon seit drei Jahren auf dem Bahnhof, mit der Überwachung der Warenräume beauftragt. Es war eine einfache Beschäftigung, die man ihm aus Mitleid gegeben hatte und die ihm erlaubte, vollständig glücklich zu leben. Mit fünfundfünfzig Jahren traf ihn zum erstenmal ein Schlagfluß, der ihm eine kleine Lähmung der linken Seite zurückgelassen hatte. Ganz Lourdes kannte ihn wegen seiner fixen Idee, mit schleppendem Fuß und auf sein Rohr sich stützend, zu jedem einfahrenden Zug zu gehen, sich dort zu verwundern und den Kranken Vorwürfe zu machen wegen des Verlangens, das sie erfüllte, geheilt zu werden.

      Seit drei Jahren sah er Herrn Sabathier. Auf diesen fiel sein Zorn.

      »Wie! Sie sind schon wieder da? Sie halten also viel darauf, dieses abscheuliche Leben weiter zu leben? Aber, zum Teufel! Sterben Sie doch ruhig daheim, in Ihrem Bett! Ist das nicht das Beste auf der Welt?«

      Herr Sabathier lachte, ohne ungehalten zu werden.

      »Nein, nein«, sagte er, »ich will lieber gesund werden!«

      »Gesund werden – gesund werden, das verlangen alle! Hunderte von Meilen zurücklegen, heulend vor Schmerz ankommen, und das, um zu genesen, um alle Pein, alle Leiden von vorne wieder durchzumachen und dann weiter zu tragen ... Ach, mein Herr! Sie in Ihrem Alter, mit Ihrem verwüsteten Körper, Sie wären schön angeführt, wenn Ihre Heilige Jungfrau Ihnen die Beine wiedergäbe! Mein Gott, was wollten Sie denn damit machen? Welche Freude hätten Sie denn daran, die Abscheulichkeit des Greisenalters um ein paar Jahre zu verlängern? Wohlan! Sterben Sie doch sofort, da Sie einmal so weit sind. Das ist das einzige Glück!«

      Während Herr Sabathier gutwillig die Achseln zuckte, gleichsam als hätte er's mit einem Kinde zu tun gehabt, blieb der Abbé Judaine auf dem Bahnsteig stehen, um den Hauptmann, den auch er gut kannte, freundschaftlich auszuschelten.

      »Lästern Sie nicht, mein lieber Freund«, sagte er; »auf das Leben verzichten und die Gesundheit nicht lieben, heißt Gott beleidigen. Sie selbst, wenn Sie auf mich gehört hätten, würden die Heilige Jungfrau schon um die Heilung Ihres Beines gebeten haben.«

      Darüber ungehalten, antwortete sodann der Hauptmann:

      »Mein Bein! An dem kann sie nichts machen, darüber bin ich ruhig! Der Tod mag nur kommen, es soll zu Ende gehen für immer ... Wenn man sterben muß, dreht man sich gegen die Wand und stirbt. Damit basta!«

      Aber der alte Priester unterbrach ihn. Er zeigte ihm Marie, die, in ihrer Kiste ausgestreckt, ihnen zuhorchte.

      »Sie würden alle unsere Kranken zurückschicken«, sagte er, »damit sie in ihrer Heimat sterben könnten, nicht wahr? Selbst das Fräulein, das in voller Jugend steht, und das leben will?«

      Marie öffnete ihre großen Augen in heißer Sehnsucht und mit dem Wunsch, zu leben, dem Wunsch, auch teilzuhaben an der Welt. Der Hauptmann hatte sich ihr genähert und betrachtete sie. Er wurde plötzlich von einer tiefen Bewegung ergriffen, welche seine Stimme zittern machte.

      »Wenn das Fräulein gesund wird«, sagte er, »so wünsche ich ihm ein zweites Wunder: jenes, daß sie glücklich würde.«

      Und er ging weg und setzte als heftig gekränkter Philosoph seinen Spaziergang mitten unter den Kranken fort, indem er den Fuß nachzog und die eiserne Spitze seines dicken Rohrstockes auf die Steinfliesen stieß.

      Nach und nach hatte sich der Bahnsteig geleert, man hatte Frau Vêtu und die Grivotte weggetragen. Gérard führte Herrn Sabathier in einem kleinen Wagen fort, während der Baron Suire und Berthaud bereits Befehle für den grünen Zug gaben, den man demnächst erwartete. Nur Marie war noch da, und Pierre nahm sich ihrer mit Eifer an. Als sie wahrnahmen, daß Herr von Guersaint verschwunden war, hatte er sie auf den Hof der Bahnstation gefahren. Dort bemerkten sie sofort Herrn von Guersaint, der sich mit dem Abbé des Hermoises, dessen Bekanntschaft er gemacht hatte, angelegentlich unterhielt. Die gleiche Freude an der Natur hatte sie einander genähert. Der Tag war vollständig angebrochen. Die Berge der Umgebung zeigten sich in ihrer Majestät. Herr von Guersaint rief entzückt:

      »Welche Landschaft! Nun sind es dreißig Jahre, daß ich das Tal von Gavarnie zu besuchen wünsche. Das ist aber noch weit und so teuer, daß ich diesen Ausflug gewiß nicht werde machen können.«

      »Sie täuschen sich! Nichts ist leichter auszuführen. Wenn mehrere daran teilnehmen, ist die Ausgabe bescheiden. Und gerade dieses Jahr will ich wieder dorthin reisen. Wenn Sie sich also uns anschließen wollen ...«

      »Wie, war' es möglich? Nun, wir werden noch darüber sprechen. Tausend Dank!«

      Seine Tochter rief ihn, und nach einem Austausch von herzlichen Grüßen gesellte er sich zu ihr. Pierre hatte beschlossen, Marie bis zum Hospital zu fahren, um ihr die Umlagerung in einen andern Wagen zu ersparen. Schon kamen die Omnibusse, die Landauer und die Möbelwagen zurück und füllten, auf den folgenden Zug wartend, den Hof aufs neue an. Es kostete einige Mühe, mit dem kleinen Karren, dessen Räder in den Schmutz einsanken, die Straße zu erreichen.

      Als der kleine Wagen etwas freier auf der abhängigen Straße hinrollte, fragte Marie Herrn von Guersaint, der neben ihr ging, plötzlich:

      »Vater, welchen Tag haben wir heute?«

      »Samstag, mein Liebling.«

      »Wahrhaftig, Samstag, den Tag der Heiligen Jungfrau ... Wird sie mich heute heilen ?«

      Hinter ihr brachten zwei Träger auf einer bedeckten Bahre den Leichnam des Mannes, den sie im Hintergrund des Gepäcksaales im Dunkel der Fässer aufgeladen hatten, um ihn an einen von Pater Fourcade bezeichneten verborgenen Ort zu bringen.

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