Lourdes. Emile Zola
kamen, um das Licht zu sparen, ganz abgesehen davon, daß man es auch viel wärmer hatte, wenn alle so beisammen waren. Man las aus der Bibel vor oder man sagte in Gemeinschaft Gebete her. Die Kinder schliefen dabei ein. Nur Bernadette kämpfte bis zum Schluß mutig gegen den Schlaf, glücklich, hier in dem schmalen Schiff der kleinen Kirche verweilen zu dürfen, deren dünnes Balkenwerk rot und blau angestrichen war. Im Hintergrunde erhob sich in gelbroter, etwas barbarischer Pracht der Altar mit seinen gewundenen Säulen und seinen Altarblättern, die Maria und die Enthauptung des heiligen Johannes darstellten. Das Kind mußte in der Schlaftrunkenheit, die es übermannte, die Vision dieser grell gemalten Bilder, mußte das Blut aus den Wunden fließen, die Heiligenscheine strahlen und die Heilige Jungfrau immer wieder kommen sehen, die sie mit ihren lebhaften blauen Augen anschaute, während es ihr vorkam, als ob die Gebenedeite im Begriffe stände, ihre Lippen zu öffnen, um das Wort an sie zu richten. Monatelang verbrachte sie auf diese Art und Weise ihre Abende, vor dem prunkvollen Altar, in einem Halbschlafe, in welchem schon der göttliche Traum begann, den sie dann nach Hause mitnahm, um ihn in ihrem Bett weiter zu träumen, während sie unter dem Schutze ihres guten Engels schlief.
Es war auch in jenem alten, ärmlichen Kirchlein, wo Bernadette anfing, den Katechismus zu lernen. Sie war gerade vierzehn Jahre alt geworden und mußte an ihre erste Kommunion denken. Ihre Pflegemutter, die für geizig galt, schickte sie nicht in die Schule, da sie sie vom Morgen bis zum Abend im Hause verwendete. Der Lehrer, Herr Barbet, sah sie niemals in seiner Klasse. Als er eines Tages die Katechismusstunde in Stellvertretung des erkrankten Abbé Ader abhielt, fiel sie ihm wegen ihrer Frömmigkeit und ihrer Bescheidenheit auf. Der Priester liebte Bernadette sehr. Er sprach oft mit dem Lehrer von ihr und sagte zu ihm, er könnte sie nicht ansehen, ohne daß er an die Kinder der Salette dächte. Denn diese Kinder müßten so ohne Falsch, so gut und fromm wie sie gewesen sein, daß ihnen die Heilige Jungfrau erschienen wäre. Als die beiden Männer sie dann eines Morgens außerhalb des Ortes mit ihrer kleinen Herde von weitem zwischen den großen Bäumen verschwinden sahen, drehte sich der Geistliche nach ihr um und sagte zu seinem Begleiter: »Ich weiß nicht, was in mir vorgehe aber jedesmal, wenn ich dieses Kind treffe, glaube ich Melanie, die kleine Schäferin, die Gefährtin des kleinen Maximin, zu erblicken.« Er war wie besessen von diesem Gedanken, der sich schließlich als eine richtige Prophezeiung erweisen sollte. Und hatte er nicht eines Abends während der Spinnstube in der Kirche jene wunderbare Geschichte erzählt von der Frau in dem blendend weißen Kleide, die über das Gras dahinschritt, ohne es zu krümmen, von der Heiligen Jungfrau, die sich auf dem Berge an dem Rande des Baches der Schäferin Melanie und dem kleinen Maximin gezeigt hatte, um ihnen ein großes Geheimnis anzuvertrauen? Seit diesem Tage heilte eine Quelle, die aus den Tränen der Heiligen Jungfrau entstanden war, alle Krankheiten, während das Geheimnis, einem mit drei Wachssiegeln verschlossenen Pergament anvertraut, in Rom ruhte. Bernadette hatte in fieberhafter Aufmerksamkeit mit dem stummen Antlitz einer wachenden Träumerin diese wunderbare Geschichte angehört und sie dann mitgenommen in die Waldeinsamkeit, in der sie lebte, um sie, wenn sie hinter ihren Schafen her wandelte, sich zu wiederholen, während eine Perle ihres Rosenkranzes nach der andern durch ihre zarten Finger glitt.
So verfloß ihre Kindheit in Bartrès. Was an Bernadette alle entzückte, das waren ihre schwärmerischen Augen, die schönen Augen einer Seherin, an denen die Träume vorüberflogen wie die Vögel an dem klaren Himmelszelte. Ihr Mund war groß, stark entwickelt und verriet Güte. Der breite Kopf mit der geraden Stirn und den dichten schwarzen Haaren würde ohne den Ausdruck liebenswürdigen Eigensinns gewöhnlich ausgesehen haben. Wer ihr aber nicht in die Augen sah, der bemerkte sie gar nicht. Sie war dann nichts anderes als ein gewöhnliches, armes Straßenkind, ein kleines, körperlich zurückgebliebenes Mädchen von einfältigem Verstande. In ihren Blicken lag alles, was in ihr zur Blüte gelangen sollte, das Leiden, das ihren armen Mädchenkörper in der Entwicklung hemmte, die Waldeinsamkeit, in der sie aufgewachsen war, die Sanftmut ihrer Schafe, der englische Gruß, den sie bei ihrem Umherziehen unter freiem Himmel bis zur Verzückung wiederholte, die ungeheuerlichen Geschichten, die sie im Hause ihrer Pflegemutter gehört, die Spinnstubenabende, die sie vor den lebenden Altarbildern der Kirche mitgemacht hatte, und die ganze Atmosphäre urwüchsigen Glaubens, die sie in dieser abgelegenen, von Bergen umschlossenen Gegend eingeatmet hatte.
Am 7. Januar war Bernadette vierzehn Jahre alt geworden, und ihre Eltern, die Soubirous', entschlossen sich, da sie sahen, daß sie in Bartrès nichts lernte, sie ganz zu sich nach Lourdes zu nehmen, damit sie regelmäßig die Katechismusstunden besuchen und sich auf diese Weise auf ihre Kommunion vorbereiten konnte. So war sie schon zwei bis drei Wochen in Lourdes, als am 11. Februar, an einem Donnerstage, bei kaltem Wetter und etwas bedecktem Himmel ...«
Aber er mußte sich hier unterbrechen, denn Schwester Hyacinthe war aufgestanden und sagte, nachdem sie kräftig in die Hände geklatscht hatte:
»Liebe Kinder! Es ist jetzt über neun Uhr ... Also Ruhe! Ruhe!«
Man war in der Tat gerade an Lamothe vorübergefahren, und der Zug rollte durch die endlose Ebene des Landes, die in tiefes nächtliches Dunkel getaucht dalag. Eigentlich hätte man schon seit zehn Minuten im Wagen kein Wort mehr sprechen, sondern nur ruhig seine Schmerzen ertragen oder schlafen sollen. Aber trotzdem erhob sich lauter Widerspruch.
»O liebe Schwester«, rief Marie, deren Augen vor Aufregung funkelten, »nur noch ein kleines Viertelstündchen! Wir sind jetzt gerade an dem interessantesten Punkte.«
Zehn Stimmen, zwanzig Stimmen erhoben sich.
»Oh, bitte! Nur noch ein kleines Viertelstündchen!«
Alle wollten die Fortsetzung hören, sie brannten vor Neugierde und waren von den Einzelheiten rührender Menschlichkeit, die der Erzähler berichtete, so gepackt, als ob sie die Geschichte noch nicht gekannt hätten. Aller Blicke hingen an Pierre, die Köpfe streckten sich nach ihm aus, seltsam beleuchtet von den hin und her schwankenden Lampen. Und es waren nicht nur die Kranken, die in fieberhafter Spannung zuhörten, sondern auch die zehn Frauen am Ende des Wagens wendeten ihre armen, häßlichen Gesichter, die der kindliche Glaube merkwürdig verschönte, dem Erzähler zu, glücklich darüber, daß sie nicht ein einziges Wort verloren.
»Nein, ich kann nicht«, erklärte Schwester Hyacinthe zuerst. »Das Programm ist feststehend. Es muß jetzt Ruhe eintreten.«
Schwester Hyacinthe war jedoch nicht unbeugsam, da sie selbst ihr Herz unter dem Busenschleier klopfen fühlte. Marie fing von neuem inständig zu bitten an, während ihr Vater, Herr von Guersaint, der mit vergnügtem Gesichte zuhörte, erklärte, man würde krank davon werden, wenn die Erzählung nicht fortgeführt würde. Als dann auch Frau von Jonquière nachsichtig lächelte, gab die Schwester schließlich nach.
»Nun, gut! Also noch eine kleine Viertelstunde! Aber nicht mehr als eine kleine Viertelstunde, nicht wahr? Sonst würde ich mich einer Ordnungswidrigkeit schuldig machen.«
Pierre hatte ruhig gewartet. Dann fuhr er mit der gleichen, durchdringenden Stimme zu erzählen fort.
Jetzt begann seine Erzählung in Lourdes, in der Rue des PetitsFossés, einer engen und krummen Gasse, die zwischen armseligen Behausungen und roh beworfenen Mauern abwärts führte. Im Erdgeschoß eines dieser Gebäude bewohnten die Soubirous' am Ende eines dunklen Ganges ein einziges Zimmer, in dem sieben Personen, der Vater, die Mutter und fünf Kinder zusammengepfercht waren. Man konnte kaum deutlich sehen. In den inneren Hof fiel nur ein grünlicher Schimmer vom Tageslicht. Dort schlief man zusammen, dort aß man, wenn man Brot hatte. Seit einiger Zeit fand der Vater, ein Müller seines Zeichens, nur schwer Arbeit. Und aus diesem tiefen Elend war Bernadette, die älteste, an jenem kalten Donnerstag im Februar fortgegangen, um trockenes Holz zu sammeln, mit ihrer jüngeren Schwester Marie und mit Jeanne, einer kleinen Freundin aus der Nachbarschaft.
Dann ging die schöne Erzählung lange weiter: wie die drei kleinen Mädchen hinunter an das Ufer des Gave geklettert waren, an der andern Seite des Schlosses, wie sie sich schließlich auf der Insel du Chalet befunden hatten, dem Felsen von Massabielle gegenüber, von dem sie nur der enge Kanal der Mühle von Savy trennte. Es war ein wilder Ort, an den der Gemeindehirt die Schweine trieb, die bei plötzlichen Regengüssen Schutz unter jenem Felsen von Massabielle suchten, an dessen Fuße, unter Himbeersträuchern und wilden Rosenstöcken verborgen,