SeelenFee - Buch Drei. Axel Adamitzki
durch den Kopf. Rosa ist schwer erkrankt.
Umständlich distanziert reichte Raymond ihr die Hand und ging unvermittelt einen halben Schritt zurück. Silvana tat es ihm nach. Sie wagten nicht, dem anderen zu nahe zu kommen – sie wussten im Moment nicht, wie sie sich begegnen sollten.
Auch wagte er nicht, ihr in die Augen zu blicken, und Silvana bemerkte an ihm nur, dass er schlecht aussah. Er wirkte fahrig zerstreut, beinahe wie damals im Hotel.
»Es tut mir leid …«, sagte er. »Ich hoffe, du musstest nicht –«
»Was ist mit Rosa? Wo ist sie?«, unterbrach Silvana ihn.
»In ihrem Zimmer. Der Arzt ist wieder bei ihr. Sibylle ist auch da.«
»Der Arzt? Wieder …?«
Er begriff sofort. Und er erzählte, dass er gestern Abend mit ihr zurückgekehrt und Manfred Vontell, der Hausarzt, dann gleich bei Rosa gewesen war. »Sie hat hohes Fieber, noch immer, aber mehr weiß Manfred zurzeit auch nicht. Er will sie in eine Klinik … Ich habe Angst, Silvana. Das alles ist meine Schuld.«
Nun sah Silvana ihn doch genauer an. Wie hilflos er war … in seiner Schuld, nein, in seiner Liebe zu seiner Tochter. Und wie sehr sie das berührte. Aber jetzt ging es nicht um seine Hilflosigkeit oder um irgendeine Schuld.
»Darf ich zu ihr … zu Rosa?«
Er blickte sie kurz an, es war ein verlorener und auch hoffnungserfüllter Blick. »Natürlich, bitte, komm. Und verzeih, dass ich nicht den Mut hatte, dir von all dem zu schreiben. Ich wollte dich nicht … Sibylle hat mir entsetzliche Vorwürfe gemacht.«
Und mit Recht, dachte Silvana und folgte Raymond.
Im Moment als sie den langen Flur in der zweiten Etage betraten, kam Dr. Vontell aus Rosas Zimmer. Er wirkte nachdenklich, und als er sie sah, versuchte er zu lächeln, doch verlor sich dieses Lächeln sogleich wieder gequält in den Mundwinkeln.
Raymond stellte sie einander vor, beließ es aber bei wenigen Förmlichkeiten.
»Geht es ihr besser?«, fragte er besorgt.
Dr. Vontell schüttelte bedauernd den Kopf. »Gern würde ich dir etwas Positives sagen, Raymond, aber … nein. Ihr Zustand hat sich nicht dramatisch verschlechtert, aber dennoch ein wenig.«
»Das ist … das ist entsetzlich.« Raymond raufte sich die Haare. Er wirkte unsagbar hilflos. »Weißt du schon, was dieses Fieber ausgelöst hat?«
Der Arzt schüttelte den Kopf. »Wir sollten sie auf dem schnellsten Weg nach Konstanz bringen. Ich kann die Verantwortung hier nicht mehr übernehmen.«
Absichtlich, so schien es, vermied er es, von Klinik oder gar von Krankenhaus zu sprechen.
Er wartete einen kurzen Moment und fuhr dann fort: »Dort habe ich … haben wir andere Möglichkeiten.«
»Nicht immer, Manfred, nicht immer«, flüsterte Raymond und blickte entsetzt ins Leere. Er schien an Melissa zu denken, Silvana sah es ihm an … »Auch im Krankenhaus hätten die Ärzte nicht mehr tun können«, hatte Dr. Berthold, Melissas Frauenarzt, ihm vor Monaten gesagt; vielleicht waren diese Worte damals sogar genau hier, an dieser Stelle, ausgesprochen worden. Die Allmacht des Krankenhauses … Raymonds Glaube daran war mit diesem Satz zerstört worden.
Silvana spürte Raymonds Zweifel.
»Wie hoch ist das Fieber?«, fragte sie.
»41,9.«
»Oh, mein Gott. Reagiert sie da überhaupt noch?«
»Das ist ja das Merkwürdige, eigentlich nicht, aber bei jedem noch so kleinen Geräusch rafft sie sich auf, öffnet kurz die Augen, blickt glasig nach rechts und links und fällt dann gleich wieder zurück in eine Art Dämmerzustand. Es ist, ich wage es kaum zu sagen, aber es ist, als würde sie warten. Auf etwas oder auf jemanden.«
Ja, dachte Silvana, ohne zu wissen warum: Sie wartet auf mich.
»Darf ich zu ihr, Dr. Vontell? Oder spricht etwas dagegen?«
»Nein, ganz sicher nicht.« Und an Raymond gerichtet sagte er: »Ich kümmere mich dann um den Transport?«
»Bitte, Manfred, warte noch. Lass uns erst zusammen hineingehen.« Raymond sah Silvana an. Er schien etwas zu ahnen.
»In Ordnung«, sagte Dr. Vontell, der wohl auch hoffte, dem Baby die Strapazen eines Transportes irgendwie ersparen zu können, dennoch schien er nicht an Wunder zu glauben. »Aber dann sollten wir sehr, sehr leise sein. Frau Scholz ist noch bei ihr. Ihre Fürsorge ist unschätzbar wertvoll.«
Kaum hörbar öffnete Silvana die Tür und trat ein. Dass Raymond und auch Dr. Vontell ihr folgten, bekam sie nicht mit. Auch nahm sie von Sibylle kaum Notiz. Nur Rosa war jetzt von Belang.
Und da lag sie, im Halbdunkel, und wie Dr. Vontell es gesagt hatte, öffnete sie die Augen, aber nicht nur kurz, nein, im Gegenteil. Ihr Blick, hilflos glasig und voller Erwartung, jagte erst fiebrig von links nach rechts, und als er Silvana traf, endlich traf, ließ er sie nicht mehr los. Verharrte er. Hilflosigkeit und Erwartung wichen einer Freude, die Zerrissenheit und Zweifel geradewegs fortzutreiben schienen.
Das Warten ist vorüber.
Man hätte es beinahe hören können. Und noch etwas anderes – einem fünfmonatigen Baby ebenso unangemessen – geschah sogleich: Rosa hob eine Hand und streckte sie begierig nach Silvana aus, und in ihrem Gesicht wuchs ein Verlangen, das nur Silvanas Nähe und Zuneigung stillen konnte.
Rasch war Silvana bei ihr, kniete sich hin und reichte ihr die Hand. Entschieden und untrennbar packte Rosa zwei Finger und schloss dann endlich … und schleppend … die Augen.
»Ich bin ja jetzt hier, meine Kleine. Und ich bleibe auch. Alles wird gut.«
Weder Sibylle Scholz, die sich zögerlich von ihrem Stuhl erhob, der an Rosas Bettchen stand, und zwei Schritte zurückwich, noch Raymond, der das Geschehen mit aufgerissenen Augen verfolgte, oder gar Dr. Vontell, der nur kopfschüttelnd dastand, verstanden, was da eben passiert war. Doch eines war ihnen gewiss: Was sie hier sahen, war gut, und es war richtig.
Nach einem Moment der Stille trat Raymond ans Bettchen. »Was können wir tun, Silvana? Können wir überhaupt etwas tun? Kann Konstanz vielleicht noch warten?«
Ohne zu verstehen, hatte er begriffen, hatte er das Schicksal seiner Tochter in Silvanas Hände gelegt – und nicht zum ersten Mal ruhte es dort.
Was sollte sie antworten? Genau verstand sie all das selbst nicht, doch in ihr spürte Silvana etwas Unbekanntes, etwas, dem nur sie nachgehen konnte. Weil nur du es kannst. Nach Wochen vernahm sie das erste Mal wieder Mels Worte. War es das hier, das nur sie konnte?
Hoffentlich.
»Vertraust du mir, Ray?«
Und das erste Mal nannte sie ihn so, einfach nur Ray. Und es klang nicht befremdlich oder gar unverschämt. Für niemanden. Es klang normal.
»Ja, sicher … Silv.«
Silv! Das war es.
Und genau hier passierte es, wie selbstverständlich und so ganz nebenbei. Aus der »zweiten Melissa« war Silvana, war Silv geworden – für den Moment.
Einen Atemzug lang schloss Silvana die Augen. Nun gab es kein Zurück mehr. Sie würde sich mit all ihren Tagträumen und Wünschen auseinandersetzen müssen. Aber nicht jetzt, später, wenn Rosa wieder – hoffentlich – gesund war!
»Würdest du Paula bitten, die Besucherwohnung für Rosa und mich herzurichten.«
Er blickte zur Tür. Paula war dort eben erschienen, um zu sehen, ob sie etwas tun konnte. Rasend schnell hatte sich herumgesprochen, dass Silvana wieder hier war. Hoffnung erfüllte augenblicklich das Landhaus.
Raymond nickte Paula zu, die sofort verstand und im nächsten Moment schon wieder verschwunden war.
»Wenn