SeelenFee - Buch Drei. Axel Adamitzki
Ich bin entsetzt. »Warum tust du das?«
»Ich muss es tun. Nur das ist mir heute möglich«, sagt das Mädchen, das plötzlich … sekundenschnell … das Aussehen einer Hundertjährigen hat. Fiebrig und Hilfe suchend blickt sie mich an.
»Was ist mit dir?«
»Hilf mir, Silvana, hilf mir! Jetzt liegt es an dir.«
»Ja, aber wie?«
»Du musst sie nehmen und entschlossen und liebevoll an dich drücken«, vernehme ich plötzlich eine Stimme hinter mir.
Rasch drehe ich mich um. Melissa! Meine beste Freundin steht da, das Gesicht angefüllt mit Sorgenfalten.
»Mel, was machst du denn hier? Woher weißt du …?«
»Erkennst du sie denn nicht?«
»Wen?« Ich wende den Blick, und ich erschrecke. Raymond steht jetzt da mit Rosa auf dem Arm. Und Rosa sieht entsetzlich krank aus.
»Nimm sie, Silv. Nimm meine Tochter auf den Arm!«
Schnell hebe ich Rosa aus Raymonds Armen und drücke sie liebevoll an mich.
»Ist es das, was nur ich kann?«
Melissa lächelt mich an. »Es ist viel mehr.«
»Aber was?«
»Du wirst es erfahren. Bald schon.«
Erwartungsvoll sehe ich sie an, doch Melissa weicht meinem Blick aus, betrachtet ihre Tochter.
»Ich danke dir, Silv. Und hier.« Melissa reicht mir ein paar Kräuterblüten. »Später, wenn alles vorbei ist, dann bade darin.«
»Was ist das?«
»Schafgarbenblüten. Sie nehmen alles Gift von dir.«
»Und noch etwas.« Ich vernehme eine weitere Stimme. Ein Mann tritt hinter Raymond hervor. Es ist Georg. Georg, der Freund meiner Mutter. Sprachlos sehe ich ihn an.
»Ein Letztes noch, Silvana, die Schatten, die du schon so lange kennst, sie sind dein Leben«, sagt er.
»Sie sind dein Leben«, schallte es noch leise durch das Zimmer, als Silvana erwachte.
Was für ein beängstigender Traum. Nein, nicht beängstigend, eher bedeutsam. Sie wusste es sofort.
Die Schatten. Es gibt sie. Und sie warten auf mich? Und Rosa? Sie muss ihren Vater beschützen?
All das war unvorstellbar.
Augenblicklich strich sie Rosa, die noch immer zwischen ihren Brüsten schlief, über das Köpfchen, über den Rücken und erneut über das Köpfchen.
Und sie lächelte.
Das Fieber … es war verschwunden.
28 – Noch immer wollte Elektra …
… es nicht glauben, Bella war wieder da. Seit Stunden, seit eben. Und jetzt lag sie hier, neben ihr – auf dem schmalen Krankenbett. Selbst wenn es nur halb so breit gewesen wäre, hätten beide darauf Platz gefunden.
Den Kopf an Elektras Schulter gelehnt, ließ Bella sich streicheln, und immer wieder sagte sie nur: »Es tut mir leid, Leeki, es tut mir alles so furchtbar leid.«
Die eben noch kaum aushaltbaren Schmerzen im Unterleib waren plötzlich erträglich.
Bella war wieder da.
Und erneut hatte sie diesen Moment vor Augen, den Moment vor Stunden, als ihre geliebte Freundin das Krankenzimmer betreten hatte. Zögerlich waren ihre Schritte ins Zimmer gewesen. Sie hatte kaum gewagt, den Blick zu heben.
Stefan Bürgli verstand die Situation sofort, und er ließ sie taktvoll allein, jedoch nicht, ohne vorher noch einmal darauf hinzuweisen, dass jede Aufregung den Heilungsprozess nachhaltig behindern könnte. Er war ihr Arzt, er musste so reden, doch vernahm Elektra seine Worte nur verschwommen hinter einer grenzenlosen Vorfreude.
Und endlich waren sie allein.
Schweigend stand Bella da. Den Kopf noch immer gesenkt verknotete sie aufgeregt die Finger. Ihr Gesicht war schmal geworden. Noch immer trug sie ihr glattes schwarzes Haar halb lang, und noch immer glänzte es wie lackiert; und die Augen, diese dunkelbraunen Augen, in die Elektra stets voller Liebe versunken, nein, mehr noch, entrückt war, jagten jetzt aufgeregt über den Fliesenboden und fanden keinen Halt.
Elektras Blick wanderte bedächtig weiter.
Über einem dunkelroten Sommerkleid, das sie nicht kannte, hatte Bella eine schwarze dünne Strickjacke gezogen, die wunderbar mit den Ballerinas an ihren Füßen harmonierte. Ihre Beine, die eben über den Knien unter dem Kleid verschwanden, waren nackt. Erst jetzt wurde Elektra deutlich, wie sehr sie auch diesen Anblick vermisst hatte. Und die Hüften, die vielen etwas zu breit erschienen, die aber die Weiblichkeit ihrer geliebten Bella vollendet zum Ausdruck brachten, hatten sich nicht verändert, waren nicht mehr und auch nicht weniger geworden – wie gern hatte sie die stets gestreichelt und liebkost.
All das betrachtete sie stumm, all das war wieder wahrhaftig vor ihr … bei ihr. Bella war wieder da.
»Hallo«, sagte sie schließlich. Nur »Hallo«, wobei dieses eine Wort den Raum kaum berührte. Und sie wartete. Kein falsches Wort, dachte sie, sag um Gottes willen kein falsches Wort. Zu fragil war dieser Moment.
»Was … was ist mit dir passiert, Leeki?«
Leeki! Ihr Kosename aus dem Mund ihrer geliebten Bella. Wie sehr hatte sie auch das vermisst. Und er ließ sogleich all ihren Schmerz beinahe gänzlich vergessen. Doch sie wollte jetzt nicht von sich sprechen, sie wollte …
»Du hast mich gesucht?« Was für eine dumme Frage. Viel lieber hätte sie die Arme weit geöffnet und gerufen: Komm her. Doch zu früh … zu fragil.
»Es tut mir alles so leid, Leeki. Ich war entsetzlich dumm.« Und endlich hob Bella den Kopf, die Augen schwammen in einem Meer von Tränen. »Du fehlst mir, Leeki. Alles würde ich dafür geben, unseren Streit ungeschehen machen zu können. Der war so sinnlos, das weiß ich heute. Bitte, glaub mir das, Leeki.«
Ja, sie glaubte ihr, auch weil sie ihr glauben wollte, und auch weil dieser Streit in den letzten Monaten für viel Unbehagen und Ruchlosigkeit gesorgt hatte – in allem, was Elektra gedacht und getan hatte. Wieder einmal, wie nur allzu oft in ihrem Leben, war sie ihrem Schatten gefolgt. Voller Verachtung, dennoch auch voller Lust. Oh, wie sehr hasste sie sich dafür. Auch wenn alle Welt glaubte zu wissen, dass sie so war – nur so, ruchlos und niederträchtig! –, so hatte es doch zwei Menschen gegeben, die mehr von ihr kennengelernt hatten: Rafi und Bella.
Nicht einmal Raymond hatte sie so ganz anders gekannt, obwohl er es verdient gehabt hätte, doch damals … Sie war zu jung gewesen, sie hatte sich selbst noch nicht verstanden – das kam erst viel später. Mit Rafi und Bella.
Und dann waren ihr diese beiden Menschen abhandengekommen. Rafi war tot und Bella …?
»Oder willst du darüber reden, Leeki?«, fragte Bella zögerlich.
Elektra zuckte die Achseln, schüttelte den Kopf, und sie erinnerte sich.
Vor beinahe sechs Monaten, es war Anfang Oktober gewesen, war es zu einem unsäglichen Streit zwischen ihnen gekommen, der Stunden später alles verändert hatte. Bella hatte nicht nur Elektras Anwesen und dann alsbald Kolumbien verlassen, sie war unauffindbar entschwunden. Über mehr, obwohl es sie bis gestern … obwohl es sie hier in dieses Krankenbett gebracht hatte, wollte Elektra jetzt nicht nachdenken. Keine Details, bitte, keine Details. Sie wollte nach vorn blicken, nur