Traum oder wahres Leben. Joachim R. Steudel
dass die verbrauchte Energie noch nicht wieder vollständig aufgefüllt war. Wang Lee ging es nicht anders, und nun machten wir uns Sorgen, ob unsere Kraft reichen würde, um dem zweiten Mann zu helfen. Dummerweise hatten wir uns entschieden, dem zuerst zu helfen, bei dem es leichter erschien, und jetzt befürchteten wir zu versagen.
Wir gingen zuerst noch einmal zu Katakura Shigenaga, der immer noch bei dem zuerst Versorgten saß. Er stand auf und fragte:
›Helfen Sie jetzt dem anderen? Bei dem hier haben Sie ein Wunder bewirkt. Er ist jetzt viel kräftiger, röchelt überhaupt nicht mehr und hat vorhin schon die Augen geöffnet. Ich hoffe, es war nicht falsch, dass ich ihm Wasser gebracht habe, als er danach verlangt hat?‹
›Nein, im Gegenteil! Er hat sehr viel Blut verloren und muss viel trinken, um den Flüssigkeitsverlust auszugleichen.‹
Er atmete erleichtert aus, und ich beantwortete, mich dem mit der Bauchwunde zuwendend, seine andere Frage:
›Wir werden jetzt versuchen, diesem hier zu helfen, doch ich kann nicht sagen, ob unsere Kraft dafür noch ausreicht. Bitte sorgen Sie wieder dafür, dass wir nicht gestört werden!‹
Er nickte bestätigend, und wir verfuhren wieder wie beim Ersten. Als wir uns niederknieten und dem Mann ins Gesicht blickten, wurde uns angst, denn sein Zustand schien sich sehr verschlechtert zu haben. Als ich in Wang Lees Augen sah, bemerkte ich, dass er die Hoffnung schon aufgegeben hatte, und ich setzte mich in Gedanken mit ihm in Verbindung:
›Erst wenn wir alles versucht haben, Wang Lee! Erst wenn wir all unsere Kraft gegeben haben!‹
›Ich werde mich bemühen, doch ich habe wenig Hoffnung.‹
›Denke anders, sonst wirkt es nicht, Wang Lee! Bitte, denk anders!‹
›Ich bemühe mich!‹, antwortete er, und ich spürte, wie er sich konzentrierte.
Wir verfuhren auf die gleiche Weise wie bei unserem ersten Patienten. Aber nach einer Weile merkte ich, dass es nicht so lief wie beim ersten Mal. Wir drangen gar nicht richtig zu ihm vor, und er schien nicht in der Lage zu sein, unsere Hilfe anzunehmen. Er war so schwach, dass wir den Eindruck hatten, er wäre schon halb in einer anderen Welt.
Nach einiger Zeit gaben wir frustriert auf. Katakura Shigenaga, der das bemerkt hatte, kam zu uns heran und erkundigte sich besorgt:
›Was ist? Sie sind bei ihm so schnell fertig? Ich habe auch nicht wie vorhin das Gefühl, dass sich sein Zustand gebessert hat.‹
Ich sah ihm in die Augen und sagte:
›Ich weiß nicht, ob wir nicht mehr genügend Kraft haben oder ob er schon so schwach ist, dass er unsere Hilfe nicht mehr annehmen kann. Auf jeden Fall dringen wir gar nicht mehr bis zu ihm vor.‹
›Steht es so schlecht um ihn?‹
›Ich denke, ja! Wir kennen leider nur diese Methode, um jemand Kraft zu geben, und der Betroffene muss bereit sein, sie anzunehmen. Wenn es möglich wäre, ihm die Kraft auf eine andere Art zu geben, hätten wir vielleicht Erfolg, aber so ...‹
Bestützt sah der Samurai auf den nur noch schwach atmenden Mann. Ich hatte den Eindruck, dass ihm jeder dieser Männer wirklich ans Herz gewachsen war. Er würde sich einem Japaner gegenüber sicherlich niemals eine solche Empfindung anmerken lassen, doch bei uns schien ihm diese Maßnahme nicht nötig zu sein.
›Haben Sie alles versucht?‹
Ich nickte nur bestätigend.
›Dann werden wir ihn wohl auch noch verlieren‹, sagte er traurig und wendete sich ab.
Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, und auch Wang Lee, den ich ratlos ansah, ging es nicht besser. Das währte aber nur wenige Augenblicke, dann sprach uns der Samurai wieder an:
›Sie haben geholfen, so gut Sie konnten, und ohne Ihre Hilfe wären wir jetzt alle tot. Auch bei den Verwundeten haben Sie mehr getan, als ich erwartet hatte. Seien Sie versichert, dass wir das niemals vergessen werden!‹
Er verneigte sich wieder einmal leicht vor uns, und mir wurde das langsam peinlich, denn so viel Ehrerbietung schien mir unangebracht.
›Sie brauchen sich nicht immer vor uns zu verneigen. Wir sind nur einfache Mönche, und Ihre Stellung ist viel bedeutender als die unsere.‹
Geschickt nutzte Katakura Shigenaga die Möglichkeit, um den Auftrag seines Herrn zu erfüllen.
›Ich denke, auch in China ist es nicht unüblich, einem anderen auf diese Art und Weise seine Dankbarkeit zu zeigen. Der Rang oder die Stellung spielen dabei nur eine untergeordnete Rolle. Doch ich habe, obwohl Sie chinesisch sprechen, als wäre es Ihre Muttersprache, den Eindruck, dass Sie kein Chinese sind.‹
Wie sollte ich jetzt reagieren? Ich war unsicher, wie viel und was ich ihm überhaupt erzählen sollte oder durfte. Meine Unsicherheit mit einem Lächeln überspielend, sagte ich ausweichend:
›Sie liegen nicht falsch, aber vielleicht auch nicht ganz richtig mit Ihrer Vermutung, aber das ist eine lange Geschichte, die wir uns für eine ruhigere Zeit aufheben sollten.‹
Ich wollte erst einmal Zeit gewinnen, um mir über meine weitere Vorgehensweise klar zu werden. Glücklicherweise erforderten in diesem Moment andere Dinge unsere Aufmerksamkeit. Von dem Weg, den wir am Vortag gekommen waren, drangen Geräusche zu uns. Schnell griffen die noch kampffähigen Japaner zu ihren Waffen, und auch wir beobachteten, auf alles gefasst, die Wegbiegung.
Erleichtert atmete ich aus, als ich erkannte, dass Chen Shi Mal mit der Hilfe aus dem Kloster kam. Zehn Mönche hatte er mitgebracht, und unter ihnen war der beste Wundheiler des Klosters. Auch einige Packpferde, die verschiedene Dinge trugen, waren dabei, und ich schöpfte wieder Hoffnung, dass wir dem Mann mit der Bauchwunde noch helfen konnten.
Als uns diese Gruppe fast erreicht hatte, bemerkte ich Liu Shi Meng, der aus der anderen Richtung auf uns zustrebte. Seinem Gesichtsausdruck zufolge hatte er Erfolg gehabt, denn er wirkte fröhlich und entspannt.
Bevor ich mit ihm sprechen konnte, erreichte uns aber Chen Shi Mal und berichtete, wie es ihm ergangen war.
So schnell ihn seine Beine tragen konnten, war er zum Kloster gelaufen und hatte es spät in der Nacht erreicht. Ohne Aufmerksamkeit zu erregen, weckte er den Abt, Hu Kang, und berichtete ihm von den letzten Ereignissen. Dieser überlegte nicht lange, suchte zehn vertrauenswürdige Mönche aus und bat sie, Chen Shi Mal zu begleiten. Nachdem alles Notwendige verschnürt war, brachen sie mit den Packpferden auf. Ihrer