Traum oder wahres Leben. Joachim R. Steudel
Die Sutren wurden auch bei diesen Toten gelesen, doch zu deren Gedenken fand sich keiner außer Wang Lee und mir ein. Jeder von uns beiden hing stumm seinen eigenen Gedanken nach.
Ich überlegte, was diese Männer wohl bewogen hatte, so eine Tat zu begehen, und warum sich Menschen immer wieder gegenseitig umbringen. Doch ich kam zu keinem rechten Ergebnis, da es so viele Gründe gibt, die zu solchen Taten führen, dass einfach keine Verallgemeinerung möglich war. Nur eins ist in allen Fällen gleich: Alle, die eine solche Tat begehen, sind in diesem Moment von der Richtigkeit ihres Handelns überzeugt, und nur wenige machen sich am Ende Gedanken darüber oder bereuen, was sie getan haben. Ich hatte bisher keinem Menschen persönlich das Leben genommen, doch indirekt zum Tod einiger dieser Chinesen beigetragen. Nun stand ich da und versuchte, vor meinem Gewissen dieses Handeln zu rechtfertigen.
Im Grunde wusste ich, dass mein Eingreifen die einzige Möglichkeit gewesen war, den Bedrängten zu helfen. Es würde wohl auch keinen geben, der mich deswegen verurteilen würde, dennoch war ich bedrückt.
Als ich durch Chen Shi Mal aus diesen sich ständig im Kreis drehenden Gedanken gerissen wurde, war ich sehr froh.
›Darf ich dich kurz stören, Xu Shen Po?‹
Ich richtete mich auf und sah ihn an.
›Natürlich! Was gibt es denn?‹
›Der japanische Fürst möchte dich gerne sprechen und bittet dich, zu ihm zu kommen.‹
Ich nickte Wang Lee zu, der seine Andacht gleichfalls beendet hatte, und begab mich zum Fürsten, der mich mit dem dolmetschenden Samurai erwartete.
›Entschuldigen Sie, das wir Sie gestört haben, doch der Fürst muss einige wichtige Dinge klären!‹
›Kein Problem! Um was handelt es sich denn?‹
›Da wir morgen in dieses Dorf aufbrechen, in dem die Verletzten gesund gepflegt werden sollen, möchte Date Masamune gerne wissen, wie lange es wohl dauern wird, bis wir weiterreisen können?‹
›Oh, das kann ich Ihnen nicht genau sagen. Doch ich denke, dass die Schwerverletzten erst in zwei bis drei Wochen dazu fähig sind. Selbst dann wird es nur langsam und mit Behinderungen vorangehen.‹
Mit einem mürrischen Gesichtsausdruck diskutierte der Fürst nach meiner Antwort mit dem Samurai. Erst nach einiger Zeit sprach mich Katakura Shigenaga wieder an.
›Der Fürst befindet sich derzeit in einer schwierigen Lage. Zum einen ist dieser lange Aufenthalt in keiner Form beim Shogun entschuldbar, und der Fürst möchte so zeitig wie nur irgend möglich aufbrechen. Außerdem hat er unser Schiff zur Mündung des Qjangwei He nach Lianyungang beordert, das uns dort in den nächsten Tagen erwartet. Wenn wir uns gar zu sehr verspäten, wird es vielleicht wieder davonsegeln. Aber er möchte auch seine Männer nicht im Stich lassen und nicht ohne sie aufbrechen. Nun überlegt er, ob er ohne die Verletzten losgehen sollte. Er könnte sich bei dem Schiff melden und anschließend am Kaiserhof eine offizielle Beschwerde über den Vorgang einreichen. Die Verwundeten könnten sich nach ihrer Genesung zur Küste begeben und würden dann mit aufgenommen, um gemeinsam die Rückreise anzutreten.‹
Ich überlegte einen Augenblick und war mir nicht sicher, ob ich unseren Verdacht erwähnen sollte, doch schließlich entschloss ich mich, sie ohne eine direkte Aussage auf die gleichen Gedanken zu bringen.
›Ich weiß nicht, ob der Gedanke gut ist! Vor allem wegen der Beschwerde am Kaiserhof. Als Sie dort den Wunsch zu dieser Reise äußerten, hatten Sie da den Eindruck, dass man begeistert über das Ansinnen war?‹
›Nein, eigentlich nicht! Im Gegenteil, man hat lange versucht, es dem Fürsten auszureden. Doch wieso fragen Sie jetzt danach?‹
›Nun, kurz bevor Sie kamen, wurden wir durch einen Boten vom Kaiserhof angewiesen, nichts von den Kampfkünsten der Mönche preiszugeben. Wir sollten den Eindruck erwecken, dass es sich nur um ein einfaches buddhistisches Kloster handelt und die Gerüchte um die Kampfmönche maßlos übertrieben seien. Der Überbringer dieser Nachricht hat sich während Ihrer Anwesenheit noch im Kloster aufgehalten und alles beobachtet. Er war aber mit einigen Dingen nicht ganz zufrieden. Vor allem der Zwischenfall, bei dem zwei Ihrer Männer Wang Lee und mir auswichen, hat ihm sehr missfallen.‹
Ich stockte kurz, denn ich war drauf und dran, alles preiszugeben. Ein wenig vorsichtiger sagte ich deshalb:
›Nun, was glauben Sie, was geschieht, wenn sich der Fürst am Kaiserhof beschwert? Ich denke, man wird sein Bedauern ausdrücken, versprechen, den Vorfall zu untersuchen, und vielleicht auch eine unliebsame Person als Sündenbock hinstellen. Doch insgeheim wird man sich höchstens ärgern, dass nicht die gesamte Gesandtschaft in den Bergen verschollen ist.‹
Nachdenklich sah mich der Samurai an und übersetzte das Gehörte wieder dem Fürsten. Dessen Gesichtsausdruck verfinsterte sich bei jedem Wort mehr, und es folgte eine sehr gereizte Diskussion zwischen den beiden. Nach einiger Zeit wandte sich Katakura Shigenaga wieder an mich und sagte:
›Der Fürst ist sehr aufgebracht über das Verhalten des Kaiserhofes, hat aber selbst schon diese Vermutungen gehabt. Er überlegt nun, wie er sich verhalten soll.‹
›Warum will er unbedingt darauf reagieren? Wie hätte er sich denn in der Situation des Kaiserhofes verhalten? Sicherlich nicht viel anders, denke ich. Außerdem ist nicht darauf reagieren viel belastender für die Betroffenen. Ich würde in der Situation des Fürsten jedenfalls so handeln.‹
Der Samurai sah mich an und schien zu überlegen, ob und wie er das dem Daimyo übersetzen sollte.
›Übersetzen Sie ruhig, was ich gesagt habe. Ich stehe dazu, und wenn der Fürst ehrlich ist, wird er mir zustimmen.‹
Katakura Shigenaga zögerte immer noch und überlegte krampfhaft, wie er es beschönigen könnte. Doch der Daimyo wurde ungeduldig und fragte barsch nach. Daraufhin gab der Samurai meine Worte unverändert wieder. Im ersten Moment stieg Zornröte in das Gesicht des Fürsten, doch schon wenige Augenblicke später lächelte er und sagte mit einem versöhnlichen Gesichtsausdruck:
›Sie haben recht, ich hätte sicher ähnlich gehandelt! Aber es ist schwierig, das hinzunehmen und nicht darauf zu reagieren, ohne sein Gesicht zu verlieren.‹
Der Samurai übersetzte seine Worte sofort und schien sichtlich