LiebesTaumel. Axel Adamitzki
Ich muss jetzt wieder. Nebenan ist so eine Art Kantine. Da gibt es Kaffee und Tee und Wasser. Und Sandwiches müssten auch noch da sein. Wartet da so lange.«
Und weg war Egi.
Was für ein Auftritt, dachte Clemens, und er lächelte.
»Du lachst«, sagte Susanne und blickte noch immer in die Richtung, in die Egi verschwunden war. »Ich finde das überhaupt nicht komisch.« Und leise ergänzte sie: »Das kann ja heiter werden.«
Gabi, die Assistentin, eine kleine, pummelige, etwa vierzigjährige Frau mit hektischen Augen, war zwanzig Minuten später bei ihnen.
»Egi habt ihr ja schon kennengelernt. Er ist nicht immer so. Meistens ist er noch schlimmer.« Und sie lachte. Clemens und Elisabeth lachten mit, Susanne fand das überhaupt nicht lustig.
Dann erklärte Gabi ihnen den Ablauf: »Um acht Uhr beginnen die Arbeiten. Alle müssen anwesend sein, egal, wann sie drankommen, außer sie sind an dem Tag definitiv nicht dabei, dann haben sie frei. Jeden Tag wird eine Folge abgedreht, mit Ausnahme der Außenaufnahmen, aber das ist jetzt nicht wichtig. Hier ...«, sie zeigte auf die Teile im Skript. »Das sind die Sätze, die bis Montag sitzen müssen. Und mit sitzen, meine ich wirklich sitzen. Es gibt ein bis zwei Stellproben, aber keine zehn Klappen. Doch das hat man euch ja im Vorfeld schon alles erklärt. Zeit ist Geld, und dieser Satz gilt hier besonders. Die Maske und alles andere seht ihr dann am Montag. Lernt euren Text, und seid Montag pünktlich um acht hier, und seid ausgeschlafen. Okay?
Übrigens, morgen sind Außenaufnahmen im Stadtgarten, wenn ihr nichts anderes vorhabt, dann schaut mal vorbei. Ihr müsst aber nicht.
Ach eines noch, es kann abends schon mal zehn Uhr werden, bis hier die Lichter ausgehen. Also, nehmt euch nicht schon für acht Uhr was vor, zumindest nicht von Montag bis Freitag. Noch irgendwelche Fragen?«
Die drei Neuen schüttelten nur den Kopf. Sie waren angekommen in der Welt der Soaps, auf dem ›Sprungbrett‹ zu einer steilen Schauspielerkarriere – wie sie gehofft hatten, wie alle hofften. Doch Zeit ist Geld. Und hier hatte man scheinbar weder das eine noch das andere ... in angemessenem Maße.
Kurz vor drei waren sie wieder draußen. Elisabeth verschwand wortlos. Susanne blickte Clemens eindringlich an.
»Hast du noch Lust auf einen Kaffee?«
»Tut mir leid, aber heute geht es nicht.«
»War ja auch nur ... Dann vielleicht ein andermal.«
»Ganz bestimmt.«
Und blicklos verschwand auch Susanne.
Clemens überquerte die Straße und schickte Vivian eine erste SMS: >Alles schon erledigt. Komme gleich nach Überlingen. Freue mich auf dich. LG.
Clemens ging langsam zu seinem Appartement und dachte über die letzten Stunden nach. Er spürte etwas in sich, etwas, das er befürchtet hatte, etwas, das er in seiner Euphorie über dieses Engagement gänzlich zur Seite gedrängt hatte, worüber er jetzt auch nicht nachdenken wollte. Vielleicht irrte er sich ja.
Heute Abend wollte er feiern, mit Vivian, in Überlingen. Nach Villingen-Schwenningen würde er erst am Sonntagnachmittag zurückkehren. Acht Sätze mussten bis Montag sitzen, und dafür benötigte er maximal einen Abend. Und die Außenaufnahmen, morgen, würde er sich schenken.
Gegen vier Uhr, kurz bevor er losfuhr, rief er Vivian an, doch sie meldete sich nicht. Und auch eine weitere SMS – >Ich freue mich auf dich. Kann es kaum erwarten, dir alles zu erzählen und dich zu küssen. LG. –, blieb lange ohne Antwort. Erst als er in Überlingen eintraf, piepste sein Mobiltelefon.
>Ich kann heute nicht. Ich bin bei meiner Mutter. Vielleicht bleibe ich heute Nacht hier. Ich melde mich. LG.
Lange blickte er auf diese Zeilen. Was war geschehen? Kein Herz, kein Kuss, kein ›Ich liebe dich‹, nicht einmal ein ›Ich freue mich auch auf dich‹.
Nichts.
Noch einmal versuchte Clemens, sie zu erreichen, doch wieder sprang nur die Mailbox an.
Nachdenklich blätterte er schließlich das Skript durch und überflog seine acht Sätze, die ziemlich anspruchslos waren.
*
»Hier.« Sabine Schreiber überreichte ihrer Tochter einen Brief. »Ich habe auch einen bekommen. Ich hoffe, das ist reine Formsache. Gern hätte ich dir all das erspart. Und ich hoffe außerdem, dass du mich irgendwann verstehen wirst.«
Vivian sah ihre Mutter verwirrt und fassungslos an. Ohne Umwege war sie von Villingen-Schwenningen direkt zu ihr gefahren.
»Was ist das?«
Zynisch und auch ein wenig ängstlich sagte Vivians Mutter: »Dein Vater ... Er ist vor zwei Wochen gestorben, und das hier ist offensichtlich seine letzte Genugtuung.«
Genugtuung? Wofür?, dachte Vivian. Und merkwürdig, sie empfand nichts bei den Worten ihrer Mutter: Dein Vater ist vor zwei Wochen gestorben ... Seit sechzehn Jahren war ihre Mutter mit Manfred zusammen, und irgendwie war er in der Zwischenzeit zu einer Art Ersatzvater für sie geworden. Doch befremdlich empfand Vivian den Zynismus und die unüberhörbare Angst in den Worten ihrer Mutter. Genugtuung ... eines Toten?
Vivian blickte abermals auf den Brief, und erneut fragte sie: »Aber was ist das? ... Von ihm?«
»Mach ihn auf. Es ist eine Einladung zur Testamentseröffnung. Irgendetwas hat er dir hinterlassen.« Höhnisch und besorgt ergänzte sie: »Irgendetwas hat er auch mir hinterlassen. Wobei ich nicht weiß, ob uns das glücklich machen wird.«
Vivian erstaunten die Worte ihrer Mutter.
»War er so schlimm? Aber ... hast du ihn nicht irgendwann einmal geliebt? Oder hat er dich mit Gewalt ...?«
»Unsinn.«
»Was? Dass du ihn geliebt hast?«
Empört sah Sabine ihre Tochter an, schien sich aber rasch wieder zu beruhigen.
»Sei nicht so frech. Natürlich habe ich ihn geliebt, sonst gäbe es dich nicht. Doch mehr sage ich nicht.«
So viel wie eben hatte ihre Mutter in fünfundzwanzig Jahren nicht von ihrem Vater erzählt. Und doch war es so gut wie nichts.
»Wann ist denn die Beisetzung?«
»Die war bereits. Und auch deshalb sage ich dir, wir haben nichts mit ihm und dieser Familie zu tun.«
Nichts? Und doch sollen wir bei der Testamentseröffnung dabei sein, dachte Vivian und wusste nicht, was sie von all dem halten sollte, wie all das zusammenpasste.
»Und wann ist diese Testamentseröffnung?«
Aber ohne die Antwort abzuwarten, wurde Vivian plötzlich unruhig. Sie hörte die Worte ihrer Mutter nicht – »Nächsten Mittwoch!« –, sie blickte nur auf den Brief, denn sie begriff, dort würde sie endlich den Namen ihres Vaters finden. Ganz sicher. Endlich würde er seine Existenzlosigkeit verlieren, würde er ein menschliches Antlitz bekommen.
Mit zitternder Hand riss sie das Kuvert auf, überflog die Zeilen, suchte nach einem Namen, nach seinem Namen, fand ihn nicht gleich, bis sie begriff, dass der Name, der etwas größer herausgestellt worden war, der allzu offensichtlich war, der Name ihres Vaters sein musste. Und er war es.
Vivian starrte ihre Mutter ängstlich und fassungslos an, und sie räusperte sich, schluckte trocken und fast piepsend quetschte sie den Namen hervor: »Hektor ... Graf zu Hohenberg ... Ein Adliger ist mein Vater?«
Ihre Mutter nickte kaum merklich.
Sekunden der Stille vergingen, nicht einmal das Klingeln von Vivians Mobiltelefon konnte diese Stille durchbrechen, blieb einfach ungehört.
Die beiden Frauen standen in der ›Rumpelkammer‹ ihrer Mutter, zwischen einem Korb mit Wäsche und einem Regal voller Akten, vor einem Bügelbrett und einem Staubsauger, der vor dem