...ach, dieses ewige Sehnen. Maxi Hill

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Schande bewahrt hat. Wie viel Sudelei hat es im Leben schon gegeben, die sie überstanden hat. Was sind dagegen die Sorgen um ihr Mädchen, die ihr ein unfertiger Mensch in den Kopf gepflanzt hatte. Sie hätte es sofort wissen müssen, hatte ihre Kinder doch gut erzogen.

      Erzogen? Was hat sie an ihren Kindern erzogen? Sie haben sich alles abschauen müssen von der Mutter und den Alten. Maria war weder mit viel Zeit noch mit großen Worten gesegnet, das musste sie gar nicht. Die Kinder haben sich gegenseitig befähigt, und das war auch nötig, weil es das Leben mit Maria Jahn nicht gut gemeint hat.

      Diese schlaflose Nacht wird ihre gedankenschwerste der letzten Jahre.

      Der Blick zurück in ihr Leben übertönt alles, was am Nachmittag war. Und sie glaubt Emy inzwischen längst, dass es so war, wie sie es erzählt hat. Aber sie wird sich nicht entschuldigen, das muss eine Mutter nicht.

      Wenn einer das Leben kennt, dann ist sie es, das würden sogar ihre Feinde unterschreiben, wenn sie welche hätte.

      Sie hat keine. Wer sollte ihr etwas neiden?

      Ihr Leben mit all den Entbehrungen, mit all den Enttäuschungen, sogar mit ein paar Lügen, zieht in dieser schlaflosen Nacht an Maria vorbei.

      Alles beginnt am Ende einer sehr glücklichen Zeit.

      TEIL 1 — DIE VERGANGENHEIT

      JUNI 1944

      Maria Jahn sieht die Bilder ihres Lebens wie in einem Reigen an sich vorbeiziehen. Erst ist es ein bunter Reigen, wie sie ihn als Kind getanzt hat, aber dann werden die Bilder immer grauer, immer düsterer. Alles um sie herum war kalt, war grau, war trostlos. Sie selber war grau, fühlte sich tot, so tot, wie ihr geliebter Hannes. Dabei hatte sie noch so große Hoffnung, dass er bald ganz zu ihr nachhause zurückkommt. Das waren jene unglückseligen Monate, in denen sie auf jeden Laut gelauscht hatte, der ihn ankündigen könnte.

      Schon zweimal war er unverhofft von der Front auf Urlaub gekommen, und schon zweimal war ihnen der Abschied zur Hölle geworden. Beim letzten Mal hatte er gesagt: »Liebes Mariechen, wenn ich nicht wiederkomme, sollst du für immer wissen: Ich liebe dich, wie nichts auf der Welt. Manchmal, wenn ich im Schützengraben liege, mein Leben überdenke und glaube, dass es bald zu Ende sein könnte, bedauere ich sehr, dass keines meiner Kinder meinen Namen trägt.«

      »Du kommst wieder«, hatte sie geflüstert, obwohl es ihr ganz anders zumute war, obwohl sie in ständiger Angst lebte, ihn an den vermaledeiten Heimatstolz der Deutschen zu verlieren. Ihr wäre sein Vaterstolz viel lieber gewesen.

      Seit Hannes an der Front war, wusste sie umso mehr, wie sehr sie ihn liebte. Damals, als sie aus der Gegend von Breslau hierhergekommen war und in ihrer düsteren Mansarde lebte, glaubte sie noch, sie klammere sich an den erst besten Notnagel, um nicht mutterseelenallein in der fremden Gegend zu sein, wo sie niemanden sonst als ihre Kollegen kannte, wenngleich sich mit der Zeit auch liebe Gäste dazugesellten, die ihr wohlgesonnen waren und die ihre Arbeit als Kaltmamsell im »Weißen Schwan« schätzten. Hannes war ihre große und einzige Liebe und er wird es immer bleiben. Zuerst war es das Leuchten in seinen Augen und der Ausdruck in seinem Gesicht so voll Zärtlichkeit, was ihr sofort gesagt hatte: Dieser und sonst keiner. Später verfiel sie auch seiner Stimme, die warm und tief war und die so wundervolle Worte sagen konnte, wie sie noch keine von einem Mann gehört hatte.

      Irgendwann war es dann passiert. Sie konnte nie mehr genau sagen, was genau geschehen war. Ihre Blicke über den Tresen hinweg? Sein Zwinkern, als sie ihn bedient hatte. In derselben Nacht wusste sie dann, wie sanft und warm sich seine Haut anfühlte, wie er behutsam durch ihr Haar strich und wie er sie zärtlich zu küssen begann. Spätestens dann hatte sie begriffen, dass sie keine Wahl hatte. Hannes war die Liebe ihres Lebens. Dass er noch tausend andere fantastische Seiten hatte, die sie überaus liebte, machte das Glück ihres Lebens vollkommen.

      Wie konnte sie damals schon ahnen, dass es eine Liebe voller Tragik werden könnte. Wenn man glücklich ist, so glücklich, dass man sich über jedes Kind freut, das er einem in den Leib pflanzt, ahnt man nicht, diese Liebe würde gar nicht ihr ganzes kleines Leben ausfüllen.

      Seit er weg war, hatte sie tausendmal seine Stimme gehört, mit ihm geredet, als stünde er neben ihr. Viel zu lange lebte sie in der Hoffnung, dieser gottverdammte Tag sei ein einziger Irrtum.

      Im ersten Moment verfluchte sie den Überbringer der entsetzlichen Meldung mehr als die wahren Verbrecher, die ihr ganzes Übel zu verantworten hatte? War das der Traum der Menschen? Immer mehr an Land und an Macht. Sie verfolgten mit stolzer Brust, wie soldatische Einheiten in fremdes Land vorstießen. Glaubte man wirklich, das ging, ohne Leid zu säen? Leid auf der einen wie auf der anderen Seite.

      Der Ortsgruppenführer in seiner senfgelben Uniform mit den angsteinflößenden rotweißen Kragenspiegeln stand vor ihr, die eine Hand geradeaus zum Hitlergruß gestreckt, in der anderen ein kleines Bündel undefinierbare Dinge. Es war nur ein Moment, ein winziger Stich in ihr Herz, bis sie im Bündel den Brustbeutel von Hannes erkannte. Die ersten Worte des Mannes hallten im Gewirr zwischen unsäglicher Angst und beißender Wut ungehört durch Marias Kopf. Der wohlgenährte Mann in seiner strammen Pose donnerte ein paar Kampfesschwüre heraus — jetzt erst recht — bis Maria endlich verstand, dass es ernst war, wie niemals zuvor in ihrem Leben etwas ernster war. »… für Führer und Vaterland gefallen: Heil Hitler!«

      Sie weinte nicht einfach wie gewöhnlich, wenn die Angst und die Erschöpfung sie in unerträgliche Unruhe versetzten. Sie brüllte ihren Schmerz heraus, mit beiden Fäusten auf der uniformierten Brust des Mannes trommelnd. Er zeigte sich standfest und führte seine Rede schnöde weiter. »Dieser Krieg wird nicht mehr lange dauern. Die Zeiten sind hart, da müssen wir alle Opfer bringen und stark sein…«

      Marias Augen weiteten sich, die Luft in ihren Lungenflügeln wurde knapp, und in den Adern schien das Blut zu stocken. Nach kurzer Besinnung schrie sie ihn an: »Ihr Mörder!« Danach konnte sie ihre Wut nicht mehr bezwingen: »Opfer bringen … Noch mehr Opfer … Mit dem Mutterkreuz des Führers an der Brust stark sein? Bis zum Ende …? Bis zum bitteren Ende, nicht wahr …! Wie bitter soll es noch für mich werden?«

      Der Mann kniff die Lippen zusammen und hielt ihr das Blechschild entgegen, so, als müsste er den Beweis erbringen, dass Hannes Jahn nicht zum Feind desertiert ist, dass er gestorben ist wie ein Held im Kampf für Führer und Vaterland. Diese Erkennungsmarke hatte die ganze Zeit in der fleischigen Hand eines dickfälligen Menschen gelegen, wie ein kleiner Triumph der Wahrheit. Für einen Bruchteil einer Sekunde wünschte Maria sich, es könnte sein wie im Märchen von Schneewittchen, das sie noch gestern den Kindern vorgelesen hat. Der Jäger war ein guter Mensch. Er hatte die schöne Königstochter verschont, der bösen Stiefmutter aber hatte er ein falsches Herz zum Beweis für Schneewittchens Tod gebracht.

      Dieser Mensch vor ihren Augen jedoch war kein gutmütiger Jäger. Seine Uniform war nicht hoffnungsvoll grün und dennoch war er der erste Mensch, der die Wucht ihrer Verzweiflung auszuhalten hatte.

      Das Grauen erfasste sie irgendwann endgültig. Die Demütigung dieser herzlosen Propaganda vom notwendigen Opfer in einem solchen Moment schlug ohne Vorwarnung in puren Hass um. Sie beugte sich nach vorn, entriss dem Mann das Bündel Geld, das er als Entschädigung mitgebracht hat, öffnete die obere Klappe des Herdes und warf das Geld in den schwarzen Schlund. Wie konnte sie noch wissen, was sie tat? Ihre Beine versagten längst den Dienst und sie ging auf den hölzernen, frisch gescheuerten Dielen in die Knie, ließ den Schmerz über sich hereinbrechen und mit lautem Geschrei wieder aus sich herausströmen.

      Lotte, die Tochter der alten Cecilia Merschank, war in Begleitung des Mannes gekommen. Sie hatte den Tag herbei gefürchtet, an dem Maria diese Nachricht bekommt, dieselbe, wie sie selbst eine schon vor elf Monaten bekommen hatte. Sie wusste, was es bedeutete, mit drei kleinen Kindern allein da zu stehen — in dieser Zeit. Auch Lotte war vom Verlust ihres Mannes durch den Kugelhagel des Feindes gezeichnet, aber sie hatte nur ein kleines Balg, wie sie immer sagte, und dazu hatte sie noch die Mutter bei sich, die den Haushalt beinahe alleine bestritt und die in ihrer Derbheit sogar die geizigen Bauern dazu bringen konnte,


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