...ach, dieses ewige Sehnen. Maxi Hill
e i l – H i t l e r !
H. Seemann, Oblt.
Die Lüge vom östlichen Feind des deutschen Volkes hing fest in den Köpfen, die ließ sich nicht mehr korrigieren und wurde zum ewigen Marschgepäck einer Generation Verführter. Wie kann eine einfache Frau begreifen, wer Opfer und wer Täter ist. Aber wie so oft wurden die Opfer zu Tätern, als die Gunst des Sieges sie erreichte. Bald hatte der Russe vor den Toren der Heimat gestanden und die Menschen packten zusammen, was zum Überleben nötig war. Sie flüchteten vor dem Feind, dessen Rache sie fürchteten. Was wäre zu fürchten gewesen, gebe es keine Schuld?
Nach dem ausgebliebenen Endsieg zurück in ihrem Dorf, wurde Maria, wie auch alle anderen, die mit dem Tod ihrer Liebsten genug bestraft waren, von einigen Wendehälsen sogar in die Reihen der Kriegsverbrecher eingestuft. Das Sagen hatte zwar überall die sowjetische Administration, aber es gab auch Deutsche, die sich der neuen Macht anbiederten, um selbst ungeschoren zu bleiben.
Der Krieg war aus, aber das Leben wurde nicht leichter. Im Gegenteil. Jetzt gab es nicht einmal mehr die ohnehin geringe Chance, von einem Bauern ein paar Kartoffeln, ein Stück Speck oder Butter zu bekommen. Die jungen Burschen waren in den letzten Kämpfen verheizt worden, die Alten schafften die Bestellung ihrer Felder kaum. Über allem herrschte die Besatzungsmacht. Jeder Scheffel Weizen wurde zwangsvereinnahmt, jeder Liter Milch, jedes schlachtreife Stück Vieh. Der Weizen wuchs so leidlich wieder auf den Feldern, aber es gab keine Müller mehr, die ihn zu Mehl zermalmten. Die steckten noch in den Gefangenenlagern oder lagen in der fremden Erde fern der Heimat.
Wenn Maria dann am Abend zur Ruhe kam — und das geschah selten genug — wusste sie, wohin ihr Leben driften könnte, wenn sie sich nicht selbst befreite. Der Krieg hatte in ihrem Dorf kaum Schäden angerichtet, sah man von der Plünderei ab, die vermutlich nicht nur durch die Sieger geschah, und sah man ab von den kranken Seelen, die allerorts zu spüren waren. Sie musste also nicht damit rechnen, in das Heer der Trümmerfrauen berufen zu werden, wie es in den Städten der Fall war. Aber was konnte sie tun, ihre Not zu lindern? Was würde in ihrer Tagesbilanz stehen können? Windeln gewaschen, Kinder gefüttert, Wäsche geflickt und Suppe gekocht, Suppe aus Kartoffelschalen, weil es für mehr nicht reichte, nie reichen würde, weil es nichts mehr gab, was man im Handumdrehen beschaffen konnte. Auch fehlte ihr das Geld.
Irgendwann wird das Leben wieder ein besseres und man kann wieder etwas kaufen. Aber wovon?
Viele der Frauen aus dem Dorf gingen jetzt zur Fabrik, und sie waren sogar stolz darauf. Es musste auch für Maria einen Weg geben, eine andere Rolle zu spielen, als es gegenwärtig aussah. Sie hatte die Pflicht, ihren Kinders den Versorger zu ersetzen. Solange Hannes täglich zum Werk gegangen war, hatte sie für ihn Essen gekocht, pünktlich am Werkstor gestanden und ihn mit einem Essgeschirr und einem heimlichen Kuss wieder an die Werkbank verabschiedet. Jetzt sollte sie es sein, die den Weg ging, den zu gehen sie sich selbst nie hätte vorstellen können.
Die Not zwang Maria, eine Arbeit anzunehmen. Es war ihr klar – und das war auch der Grund für ihr Zögern – dass sie keine große Rolle spielen konnte im Heer der routinierten Arbeiterinnen. Einzig in der hiesigen Fabrik hatte sie jedoch die Chance, eine niedere Arbeit zu bekommen.
Auf ihrem Weg zur Fabrik betete sie jeden Tag vor sich her: »Ich brauche keine Ausbildung. Ich kann zupacken. Ich kann einfach arbeiten und am Ende meinen Lohn nachhause tragen.«
Inzwischen stand sie tagein, tagaus an der Werkbank und stanzte undefinierbare Werkstücke aus undefinierbarem Stoff für undefinierbare Zwecke.
Die Arbeit war nicht nur ungewohnt, sie raubte Maria die Lebenssäfte. Schon nach drei Stunden dampfte ihr Leib vor Anstrengung, als wäre sie über den Waschkessel gebeugt. Ihr weiches, lockiges Haar hing in Strähnen über der Stirn. Gerade lehnte sie schwer atmend an einer Säule und konnte den Stanzhebel nicht mehr herunterdrücken, als der Vorabeiter an der Tür stand und ihr Dilemma sah. So sehr sie sich bemühte, der schwere Hebel rutschte ihr einfach aus den Händen, so fest sie ihn auch zu packen versuchte.
Langsam kam der Mann auf sie zu, der Genosse Papst genannt werden wollte. Er umschlich den jungen Körper, der die letzte Kraft zu mobilisieren versuchte, um nicht wegen Arbeitsbummelei herausgeschmissen zu werden.
Die Augen des Mannes schielten schräg über ihren Körper, die Lippen folgten in gleicher Weise, ehe sie herausbrachten: »Komm mit ins Kistenlager, danach bekommst du einen leichteren Auftrag von mir. «
Der Mann war ein kräftiger Typ, dem der Krieg und der Hunger vermutlich nichts anhaben konnten. Sein Hosenbund spannte, obwohl die Hosen an den meisten, mageren Männerleibern kaum noch Halt fanden. Marias Blick wurde für nur eine Sekunde kess, bis sie sich besann, wer sie war und wo sie sich befand. So sehr sie sich nach Aufmerksamkeit sehnte, bei diesem Mann hatte sie das Gefühl, es ging ihm um eine biologische Notwendigkeit, nicht um die Seele oder gar die Liebe. Ihr half nichts, als die Zähne zusammenzubeißen und sich voll der mühevollen Arbeit zu ergeben. Sie antwortete nichts, aber in ihrem Kopf blieb der Zweifel: Ein leichterer Auftrag würde ihr schon gefallen. Immerhin hat sie nach zehn Stunden im Werk noch einmal eine zweite Schicht zuhause. Halb wütend, halb gleichgültig, trabte der Mann davon. Auf seinen Lippen ein Lied von Joannes Heesters: Tausend Mal möcht ich dich küssen.
Es war nur dieses Lied, das sie mit dem Mann versöhnt hatte. Wer diese Lieder sang, die auch ihr Hannes gerne gehört hatte, konnte nicht schlecht sein. Leider hatte sie nicht den Mut und erst recht nicht die Kraft, es ihm später einmal zu sagen. Für die Worte, die sie dafür gefunden hätte, wäre ein winziges Stück Papier ausreichend gewesen. Das lag nicht an ihrer pathologischen Befangenheit, eher an der heimlichen Freude über sein verkapptes Kompliment.
Es war nicht nur der Hunger und das entbehrungsreiche Leben, die Maria alle Kraft nahmen. Jetzt kam noch die ständige Angst dazu, was gerade zuhause mit den Kindern sein könnte, ob die Nachbarn einsprangen, wenn etwas passierte.
Sie könnte sich nirgendwo vergnügen, solange ihre Kinder zuhause auf sie warteten. Karla war gerade erst sieben geworden und Franka noch keine fünf. Ganz zu schweigen von Elias, der zwar zeitweilig von seiner Patentante in der Nachbarschaft betreut wurde, aber auch das war für Maria kein Grund für Sorglosigkeit. Und dann war da noch die Liebe, die sich für immer aus ihrem Herzen, aus ihrem Leib, von ihren Lippen und den Brüsten und den Schenkeln verabschiedet hatte — für immer? Wenn sie nur wollte, letzteres könnte sie ganz leicht ändern. Aber Liebe und Triebe sind zwei linke Schuhe.
Bisweilen wurde sie in ihrem täglichen Kampf um die schnöde Dinge des Lebens fast schon hysterisch und war bisweilen an der Grenze des Irrsinns. Wie schlecht es in ihr aussah, sollte niemand, wollte auch niemand hören. Jeder glaubte, er könnte seinem bisschen Leben das Beste abringen und für immer und ewig in seiner Hand behalten, aber das war Illusion. Zufälle sind es, die den Gang des Lebens bestimmen. Der schönste Zufall war, dass sie Hannes geradewegs vor seine Füße gefallen war. Zufall, dass er seine kleine Schwester nicht dabei hatte, die ihn hätte davon abhalten können, dass sie sich näher kommen konnten. Schöne Zufälle. Und dann die andere Sorte: Zufall, dass im tiefsten Russland diese Granate gesplittert ist und die Schläfe von Hannes erwischt hat.
Die jüngsten Zufälle für Maria waren ganz anderer Gestalt. Der todbringende Krieg hatte zwar den »Weißen Schwan« verschont, aber nicht diese Seite ihres Leben, die mit dem Haus verwurzelt war, bis Karla geboren wurde. Oben unter dem Dach hatte sie gewohnt, unten war sie als Kaltmamsell in einer gute Anstellung. Niemand brauchte jetzt eine Kaltmamsell, wenn schon keiner mehr wirklich satt wurde.
Ob es auch ein Zufall war, dass die Mutter zuhause in Schlesien lebte und deshalb nicht für ihre Enkel da sein konnte, darüber richtete sie nicht. Sie war es, die ihre schlesische Heimat verlassen hatte, gottlob, denn man hörte seit Jüngstem nichts Gutes von dort. Aber das änderte nichts daran, dass genau genommen ihr Leben eine Anhäufung von Zufällen war. Nur selten waren es die geplanten Dinge, die ihr Leben zu dem gemacht haben, was es ist. Wie könnte sie das wieder umkehren? Wie könnte sie ihre Richtung selbst bestimmen?
Marias stetig wachsender Wille, etwas zu ändern, hatte Folgen. Zunächst sah es aus, als habe es sich gelohnt. Für jeden Menschen spart das Schicksal