Düsteres Erbe. Rita Renate Schönig
machte eine abwehrende Handbewegung. „Ich geh gleich mal riwwer zu dem. Mer muss sich halt immer anschnalle“, setzte er nach. „Do druff besteht de Herbert. Des wäre Pflicht, seit a paar Johr, sacht er.“
***
Könnte der Tote tatsächlich der damals vermisste Fliegerpilot sein, mit dem Maria Häusler eine Affäre gehabt hatte? Es musste so sein, bestätigte sich Helene in ihrem Verdacht. Warum sonst wäre er im Garten der Häuslers vergraben?
Am Tatort hatte sie nichts mehr in Erfahrung bringen können. Die Polizeifahrzeuge waren abgerückt und die Nachbarn wieder in ihre Häuser zurückgekehrt. Nur ein paar Fußgänger, die durch die Straße liefen, schauten verwundert zu dem Absperrband, auf dem Polizei zu lesen war.
Helene beschloss, auf den Friedhof zu gehen. Am Grab ihres Mannes konnte sie immer am besten ihre Gedanken sortieren. Manchmal hatte sie sogar den Eindruck, ihr Friedel gäbe ihr Ratschläge.
Durch die Wolfstraße ging sie zum Marktplatz, ließ diesen links liegen und lenkte ihre Schritte durch die Freihofgasse zum Freihofplatz. Vor ihr ragten die Türme der Basilika auf. Die Glocke schlug gerade vier Uhr. Sie erklomm die ersten sechs Stufen der Sandsteintreppe zur Plattform des aus der Zeit der Karolinger bestehenden historischen Kirchenbaus; ging dann links über den ehemaligen Schulhof der Hans-Memling-Schule und setzte sie ihren Weg rechtsseitig der Klostermauer fort. Einige Meter weiter trat sie durch die Friedhofspforte. Sie schaute kurz in die Noth-Gottes-Kapelle, in der ab und an Leute knieten und beteten. Jetzt aber war diese leer. Und auch sonst begegneten ihr nur wenige Menschen. Die Witwen und Witwer hatten längst ihren alltäglichen Gang zu ihren Lieben und ihr Schwätzchen mit den jeweils Hinterbliebenen hinter sich. Vermutlich hielten sie jetzt ihren Mittagsschlaf.
Helene entnahm einen Lappen aus der Plastiktüte, die sie rückseitig des Grabsteins deponiert hatte, und wischte damit über den rostbraunen Marmor. Liebevoll blickte sie dabei auf das kleine ovale Foto, das in den Stein eingelassen war. „Die haben einen Toten im Garten vom Häusler gefunden. Aber das weißt du bestimmt schon längst. Was hältst du von der Sache? Traust du dem Hannes einen Mord zu? – Ja, du hast schon Recht, dem alten Häusler ging sein guter Ruf über Alles. Das hast du mir selbst immer wieder erzählt. Also, was meinst du, wäre es denkbar?“ Sie beugte sich dicht an das Konterfei von Friedel. Dabei stieß sie gegen das Grablicht. Es wackelte. „Soll das ein JA bedeuten?“
„Tach, Frau Wagner.“
Helene schaute auf. Herbert Walter winkte ihr zu. Sie hatte ihn nicht gesehen. Er stand zwei Reihen entfernt am Grab seiner Mutter. „Geht’s Ihne net gut?“
Jetzt erst fiel ihr auf, dass sie sich am Grabstein festhielt. „Danke, Herr Walter. Mir war nur grad etwas schummerig. Geht schon wieder.“
Der Mann kam auf sie zu. „Da braucht mer sich net zu wundern, bei der ganzen Aufreechung mit dem Tote. Des haut einen schon mal um.“ Zwei Sekunden lang schaute er sie nur an. Dann holte er tief Luft. „Derf ich Sie zum e Kaffee einlade. Ich hätt Zeit.“
Helene schmunzelte. Bereits seit Jahren bemühte sich Herbert Walter sich um ihre Aufmerksamkeit und natürlich hatte sie dies bemerkt. Immer, wenn sie sich in der Stadt beziehungsweise wie jetzt auf dem Friedhof begegneten, fing er ein kurzes Gespräch an. Normalerweise täuschte sie vor, sie müsse schnell nach Hause, weil die Wäsche wartete oder etwas auf dem Herd stünde. Heute jedoch folgte sie einer inneren Eingebung und nahm die Einladung an.
„Vielleicht ist ein Kaffee gar keine schlechte Idee, Herr Walter.“ Sie lächelte ihn an. „Bringt die Lebensgeister wieder auf Trab. Vorausgesetzt man hat kein Herzproblem.“
„Ach, da müsse Sie sich um mich keine Gedanke machte. Mein Herz is so gesund, wie des von em Vierzischjährige.“ Herbert Walter lachte. „Und, wo geh mer hin? Mache Se en Vorschlag.“
„Setzten wir uns doch gleich in das Café am Mainufer.“
Herbert hätte allem zugestimmt. Hauptsache er konnte mit der noch immer recht ansehnlichen Helene Wagner endlich an einem Tisch sitzen. Schade nur, dass jetzt grad kein Bekannter vorbeikam, der sie zusammen sehen konnte. Nur Touristen unterwegs, stellte er enttäuscht fest, als sie mit Blick über den Main, Platz nahmen.
„Wissen Sie, Herr Walter, die Sache mit dem Toten, das hat mich schon sehr erschüttert“, begann Helene das Gespräch. „Ich dachte immer in diesem Städtchen wäre die Welt noch in Ordnung. Und nun das!“
„Och, Frau Wagner, des is doch schon so lang her. Sie brauche sich wirklich net zu fürchte. Außerdem bin ich doch bei Ihne. Aber, was meine Se, wolle mir uns net duze? Mir kenne uns doch schon seit beinah ner Ewigkeit. Und den Friedel hab ich ja auch gut gekannt.“
Helene schaute ihr Gegenüber einen Moment lang an. „Na gut, Herr Walter, also Herbert. Sie ..., eh du bist ja ein anständiger und manierlicher Mensch.“ Sie hoffte, dass der Mann ihren versteckten Hinweis richtig deutete.
„Freut mich, Helene.“ Sie reichten sich die Hände. „Hättest du den Häuslers so etwas zugetraut? Ich meine, was ging bloß in der Familie vor?“
Herberts Gesichtsausdruck wurde ernst. „Willst du wirklich wisse, was ich glaube?“
Sicher wollte Helene das. Nur deshalb hatte sie sich auf diese Vertraulichkeiten eingelassen.
Walter beugte sich zu ihr. „Also, es wurd ja immer wieder erzählt, dass die Maria die Schwester vom Hannes so um fünfundvierzig war des, ein Verhältnis mit einem Ami gehabt habe soll, und dass des dem Hannes überhaupt net gepasst hätt. Aber des weißt de ja bestimmt vom Friedel.“ Helene nickte. „Aber die Maria hätt sich nix sage lasse“, setzte Herbert seinen Bericht fort. „Und dann, so Knall auf Fall, war der Ami verschwunde; des weißt de bestimmt aach. Danach is die Maria monatelang net vor die Tür gegange. Eigentlich hat mer sie überhaupt net mehr gesehe, bis se gestorbe is und da auch net mehr so richtig, weil der Hannes sofort den Sarg hat zumache lasse.“
Helene rührte in ihrem Cappuccino. „War es nicht üblich, dass Freunde und Nachbarn sich von einem Toten im offenen Sarg verabschiedet haben – so von Angesicht zu Angesicht.“
„Ja. .Das is es ja. Aber da is noch was. Der Schorsch, also der Georg Lenz mein Nachbar, hat die Maria so zwei Monate vorher mal zufällich im Garte gesehe und der hat mir erzählt, dass se ganz schee zugenomme hätt, so um de Bauch erum, wenn de verstehst?“ Herbert Walter nahm einen großen Schluck Kaffee. „Und dann, kurz nachdem die Maria gestorbe war, da war plötzlich die Edeltraud da. Des is schon e bissje komisch, oder?“ Er rückte mit seinem Stuhl noch einige Zentimeter näher an Helene heran. „Also, was ich dir jetzt sag, des wisse nur a Handvoll Leut’“, flüsterte er dicht an ihrem Ohr. Für Außenstehende musste es den Anschein haben, als würden die beiden Zärtlichkeiten austauschen.
Helene war es unangenehm.
„Der Hannes Häusler konnte überhaupt keine Kinner mache. Der soll als Kind die Mumms gehabt habe. Des hab ich von meiner Mutter gehört. Deshalb war der auch immer so unleidlich und ist so viel in die Kirch gegange. Vielleicht hat er sich auch deswege so oft im Waisehaus rumgetriebe. Also, was ich damit sage will, die Edeltraud kam grad richtig um die Schandmäuler zu stoppe.“
„Oh, mein Gott! Du glaubst …?“
Herbert nickte. „Hundertprotzentisch. Die Edeltraud ist des Kind von der Maria und dem Ami. Und ich sag dir noch was, des Gerippe, was die gefunde habe, des is der – also der Ami. Den hat de Hannes ums Eck gebracht.“ Herbert machte mit seiner rechten Hand eine eindeutige Bewegung über seinem Hals.
„Aber, könnte es nicht auch ein Unfall gewesen sein?“, gab Helene zu bedenken.
Walter schüttelte den Kopf. „Glaub ich net. Wenn’s so gewese wär, warum hätt der Hannes den in seinem Gadde vergrabe solle. Dem wär bestimmt was eingefalle, wege dem amerikanische Militär. Der konnt doch gut mit dene. Nur, bei em Mord hätt des schon annerst ausgesehe.“
Helene nickte nachdenklich. Dann sagte sie plötzlich. „Ich würde ja gerne herausfinden, was damals wirklich passiert ist? Du auch?“
„Du