Villa am Griebnitzsee. Beate Morgenstern
vom Fenster hinunter auf den Boden, setzt den Fuß auf ihn. "Du hast mich besiegt", sagt er. "Du bist besiegt, du bist besiegt. "Veronika springt durch das Zimmer, sieht dann aus dem Fenster. "Sag mal, können sie dich nicht einberufen?", fragt sie. - "Natürlich!" - Aber freiwillig gehst du nicht. " Wenn's sein muss, gehe ich."
Langes Sitzen strengte Susanne an. Sie legte sich hin, schob sich ein Kissen unter den Kopf, bat Georg, auf einem Sessel in ihrem Blickfeld Platz zu nehmen. Immer versuchte sie, mit den jungen Männern zu reden, wenn sich nur irgendein Ansatzpunkt ergab.
Veronika schleicht sich durch die elterliche Wohnung. Die Mutter dreht sich im Bett, wendet sich an den Vater: "Er hat ihr den Kopf verdreht." - "Und sie ihm", entgegnet der Vater. "Liebe, meine Teure, ist ein gegenseitiges Kopfverdrehen."
Susanne begann von dem Film zu erzählen, dessen Musik ihr nicht aus dem Kopf ging und infolgedessen auch die Bilder nicht. Es war der Erste, verstehen Sie, der allererste, in dem der große Bruder nicht von Helden berichtete, sondern von dem Elend, das der Krieg über die einfachen Menschen brachte. Ein Ereignis, als er Ende der 50er Jahre in den Kinos lief. Eine Liebesgeschichte. Dann kommt der Krieg. Eine Geschichte auch von Verrat. Bisweilen gibt es sarkastische Momente.
Boris hat seinen Einberufungsbefehl erhalten. Der Junge, sein Vater, die Schwester, die Großmutter sitzen um einen Tisch und warten auf Veronika. Zwei Komsomolzinnen platzen in die Abschiedsrunde, um patriotische Grüße von der Komsomolorganisation auszurichten. Boris' Vater, Arzt, rundes, doch nicht volles Gesicht, Brille, Schnurrbart, hohe Wangenknochen. Vor Gram um seinen jüngsten Sohn außer sich, fällt er in die Rede der beiden Mädchen ein: "Halten Sie durch bis zum letzten Blutstropfen, sollen Sie sagen." Fast schreit der Vater. "Schlagen Sie die verdammten Faschisten, während wir hier weit hinten die Pläne erfüllen und übererfüllen werden!" Die Mädchen lassen sich von ihrem Geplapper nicht abhalten. Bei einem ist gerade Abschied vom Bruder gefeiert worden. "Mutter hat so geweint", berichtet das Mädchen stolz. "Und Sie?", fragt der Vater grimmig. "Ich auch." - "Im Auftrag der Betriebsgewerkschaftsleitung oder von sich aus?"
Ein pazifistischer Film, sagte Susanne. Selbst vor der Darstellung einer Vergewaltigung schreckte man nicht zurück. In Bildern, Symbolen: Stiefelschritte, die auf Glasscherben gehen. Wenn man die Sprache des Stummfilms kennt, ganz eindeutig. An unserer Schule hat man's jedoch geleugnet.
An Ihrer Schule?, fragte Georg.
An der Filmhochschule. Nach dem Vorbild der WGIK geschaffen, der berühmten Hochschule in Moskau.
In Babelsberg, ich weiß, sagte Georg.
Er weiß, wie schön. Natürlich weiß er, dachte Susanne, versuchte mit einer Gegenfrage von dem Gesprächsthema abzukommen, das ihr immer das liebste von allen war. Und darf man fragen, was Sie nach dem Jahr als Zivi vorhaben?
Ich werde Geiger, sagte Georg schlicht.
Geiger? Violinist?
Ich habe eine Zusage von der Weimarer Hochschule.
Also darum die Frage nach meinem E-Piano!
Vielleicht werde ich auch Tonmeister, schwächte Georg ab.
Kunst oder Kommerz! Susanne riss ihren Mund weit zu einem Lachen auf, was sie sich leisten konnte. Obwohl Mitte 50, hatte sie ihr vollständiges Gebiss, starke regelmäßige Zähne. Auch ihr braun-schwarzes Haar zeigte kaum Graufäden. Wie zum Hohn hatte ihr die Natur äußerlich ewige Jugend gegeben. Von kräftiger Gestalt, sah sie immer blühend aus, wie das bei Hochdruck-Kranken überwiegend der Fall ist.
Das erste Gespräch mit Georg war geführt. Susanne hätte sich auf jeden jungen Mann eingerichtet. Doch bei Georg handelte es sich wohl um einen Glücksfall. Musiker war er!
Die Zivildienstleistenden hatten leichte Arbeit bei ihr. Sie holten ein, trugen Mülleimer hinunter, kehrten und wischten die Treppe, blieb Zeit genug, unterhielt sie sich mit den Jungen. Vor allem brauchte sie jemanden, mit dem sie reden konnte.
Susanne verabschiedete Georg für diesen Tag.
Die Familie von Boris am Frühstückstisch. Ein leerer Stuhl "Unglaublich!" - "Er arbeitet so viel", entschuldigt die Großmutter. "Diese Arbeit wird mit einer Hochzeit enden", spottet die Schwester. ... Man hört eine Meldung im Radio: "Hier sind alle Sender der Sowjetunion und Radio Moskau. Achtung." Blick auf den schlafenden Boris. Der Bruder Mark kommt herein. "Boris, es ist Krieg." - "Lasst mich schlafen."
Jeden Dienstag, jeden Donnerstag erschien Georg. Einmal war er länger krank. Ein anderer kam. Susanne wartete, dass Georg wieder gesund würde. Anfangs brachte er bei jedem Besuch etwas mit. Als Erstes eine Schallplatte, die Aufnahme von einem Konzert des ehemaligen Musikschulorchesters der DDR, nunmehr von Gesamtdeutschland, zur Einweihung des neuen Parlamentsgebäudes in Bonn im November 92. Georg hatte im Orchester mitgespielt.
Georg erzählte von der Musik, die er mit einer Band machte, Geige, Mandoline, Banjo, Bass, E-Gitarre. An den Wochenenden zogen die jungen Männer über die Dörfer. Dann brachte er eine Tonbandkassette seiner Musik mit. Das ist Blue Grass, sagte er.
Blaues Gras?
Ja, nach dem Gras benannt, das in Kentucky wächst.
Susanne fiel die blaue Blume der Romantik ein. Blau die Farbe der Treue, aber auch der Sehnsucht. Georg hatte einen Traum. Auch sie hatte geträumt. Sie träumte immer noch. Ihr Leben kannte keine Zukunft mehr. Doch die Welt der Illusion, des Films, war ihr geblieben.
Susanne legte die Kassette ein. Die Musik rhythmisch, sehr melodiös, virtuos, die Geige fiedelte, unglaublich das Tempo, schon in den Jazz gehend. Es war genau die Art Musik, die Susanne mochte. Nun verstand sie, dass Georg Pullis mit aufgedruckten indianischen Mustern trug. Es geschah aus Verehrung zu diesem Land, in dem das "blaue Gras" wuchs, zu seiner Geschichte. Gefällt mir, Georg, gefällt mir sehr, sagte sie.
Ihren Ursprung hat die Musik bei den Schotten, den ersten Einwanderern, erklärte Georg. Übrigens haben Sie eine gute HiFi-Anlage.
Ich hab sie mir Stück um Stück gekauft. Ich bin schon immer für gute Tontechnik zu haben gewesen. Und wenn ich deshalb nur trocken Brot essen müsste. Sie lachte.
Georg verzog leicht den Mund, woran Susanne sah, ihr einfacher Scherz hatte Erfolg. Ihr war es immer darum zu tun, die Menschen um sie zum Lachen, zu guter Laune zu bringen.
Na ja, Frau Burkard, was ich für Sie einkaufe, ist schon dürftig!
Ich muss mein Gewicht halten. Fleisch darf ich wegen meiner Diät sowieso kaum essen. Also leiste ich mir CDs, einen guten Fernseher, eine HiFi-Anlage.
Dieses Mal hatte Georg eine Kassette bei sich gehabt. Ein anderes Mal war es ein großer Apfel. Er bestand darauf, ihn in der Mitte durchzuschneiden und ihr die Hälfte zu geben.
Immer mehr bezog Susanne Georg in ihre Gedanken ein. Die Nähe war leicht herstellbar. Georgs Großmutter lebte im selben Ort wie Susanne, ein Teil noch zu Berlin gehörig, er wohnte mit seiner Familie im Nachbarort, noch im S-Bahnbereich. Das Haus seiner Eltern offenbar von Rückübertragungsansprüchen nicht betroffen wie Häuser sehr vieler anderer hier. Raffe, raffe, Häusle klaue, nannte man im Volksmund den Entscheid Rückgabe vor Entschädigung. Man war in Deutschland angekommen. Und dieses Deutschland war kalt. Aber es gab diese jungen Männer, Ersatz für die Hauswirtschaftspfleger in DDR-Zeiten, damals Aussteiger zumeist, die Alten und Bedürftigen geholfen hatten.
Georg hatte seinen Professor in Weimar besucht. Der Professor war mit ihm zufrieden gewesen. Georgs kindlich-schneidiges Gesicht nun nur noch kindlich, als er davon sprach. Dann wieder war er müde von den Auftritten seiner Band am Wochenende. Geld spielte eine große Rolle. Die Band brauchte Technik, Verstärker, Mikros. Die Jungen sparten. Blieb bei den Besuchen Zeit zum Reden, erzählte Susanne Georg von Filmen und Geschichten, die sie gehört oder selbst erlebt hatte.
Manchmal ertappte sie sich dabei, wie sie laut mit Georg sprach, obwohl er nicht da war.
Ich komme aus kleinen Verhältnissen, erklärte sie dem abwesenden Georg. Ich hab wohl das Klavier zu Hause traktiert, unheilbar verstimmt seit der