Villa am Griebnitzsee. Beate Morgenstern

Villa am Griebnitzsee - Beate Morgenstern


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hätte ich den Laden meiner Mutter übernehmen sollen.

      Von frühmorgens bis spätabends und oft noch am Wochenende das Läuten der Klingel. Die Mutter läuft in den Laden: Gudn Tach, Frau Sowieso, gudn Tach, Herr Sowieso, was darf'sn sein? Um Pfennige, um das Geld, Geschäft dreht sich alles. Schon als Vierjährige rennt Susanne ins Kino, hat bei Kino-Marquardt ihren Platz. Für eineinhalb Stunden schaut sie in eine andere Welt, in der Mut etwas gilt, und Ehrlichkeit und Gerechtigkeit sich durchsetzen. Oder die einfach schön ist, leicht, heiter:

      "Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Beste, was es gibt auf der Welt, ein Freund bleibt immer Freund, selbst wenn die ganze Welt zusammenfällt ... "

      Von nichts kommt nichts. Immer gibt es irgendeinen Anstoß, der den Stein ins Rollen bringt. Sonst liegt er da, rührt sich nicht. Es kann nicht sein, denkt der Mensch. Wie kann etwas sein, was nie war! Die Mauksch-Irmgard verdirbt dich!, barmt die Mutter. Sie setzt dir Flausen in den Kopf! Mitten in der Verwandtschaft von Händlern und Gastwirten Mauksch-Irmgard, eine Sängerin! Die bringt Susanne darauf, dass es beim bloßen Wünschen, Sehnen nicht bleiben muss. Mauksch-Irmgard nimmt Susanne in eine Premiere nach Dresden mit. Der Vorhang geht auf. Die Welt, die sie dort sieht, hat nichts mit der gemein, in der sie lebt. Von da an wird Susanne von Kino, Film, Theater nicht mehr lassen. Und wenn sie Platzanweiserin würde, wie Susannes leibliche Mutter, die sie wenige Jahre später kennenlernt.

      Mauksch-Irmgard verschwindet zu einem westdeutschen Industriellen nach Bayern. Susanne marschiert zum Chefdramaturgen des Theaters von Karl-Marx-Stadt, vormals Chemnitz, nachmals Chemnitz oder Karl-Chemnitz, wie ein ehemaliger Studienfreund zu sagen beliebt. Mauksch-Irmgard hat sie noch bekannt gemacht. Susanne kann sogar ein Anliegen vorbringen. Für den Schulfunk kommt sie. Auch ein Chefdramaturg kann oder will vielleicht nicht Nein sagen, wenn ein Kulturobmann der FDJ in quasi gesellschaftlichem Auftrag zu ihm kommt. Und erst recht nicht, wenn er Susanne heißt. So ein Typ fällt auf, draufgängerisch, kräftige Gestalt, dicker, schwarzer Pferdeschwanz, engstehende gelbe Augen, breite Wangenknochen, lange gebogene Nase, kleiner voller Mund wie ein küssendes Herz im Gesicht. Das Gespräch dehnt sich aus. Friedrich Wolf, in der Schule gepriesener Autor von "Professor Mamlock", "Zyankali", wird von dem Chefdramaturgen achselzuckend zur Seite getan. Wir müssen die Stücke spielen, sagt er. Das wirkliche Leben, die wirkliche Kunst ist was anderes. Und Pavel Kohout?, fragt Susanne. Nee, sagt der Chefdramaturg. Schauen Sie sich Goldoni an, das ist Theater, die Commedia dell'Arte. Molière.

      Susanne erhält Maßstäbe, wird sich von Gerede nicht mehr irremachen lassen.

      Der untergeordnete Dramaturg Susannes nächster Ansprechpartner. Ich interessiere mich für Theater, sagt sie. - Und was interessiert Sie am Theater? - Warum die Leute auf das eine Stück so gut reagieren, auf ein anderes weniger. - Na, was meinen Sie denn, warum? Was macht Kunst aus? Wie wirkt Kunst? Warum sind bei bestimmten Stellen die Leute ergriffen? Ein Plan steckt dahinter, ein Gefüge, erkennt Susanne.

      Der Chefdramaturg bietet Susanne an, in eine Generalprobe zu kommen. "Wallenstein". Mitten im Text unterbricht der Regisseur, ruft etwas nach oben. Der Schauspieler zieht den Degen. Wirft ihn auf den Boden. Ist ja Mist!, ruft er. Wenn Sie noch einmal so mit mir sprechen, lass ich mir das nicht gefallen. Was ist das für eine Art! Er spricht volltönend, mit "Röhre" - Sie haben gefälligst meine Konzeption umzusetzen!, donnert der Regisseur. Und wenn Sie das nicht bringen, dann fällt meinetwegen heute Abend die Premiere aus!

      "Wenn ich irgendeinen Witz anfange, stiehlst du die Pointe, wenn ich Diät esse, nimmst du ab. Wenn ich mich erkälte, du hustest. Und wenn wir jemals ein Kind bekommen sollten, dann bist du wahrscheinlich die Mutter." Die gefeierte Schauspielerin Maria Tura hat einen ihrer spontanen Auftritte hinter der Bühne. "Wenn ich der Vater bin, bin ich zufrieden", entgegnet Joseph Tura trocken.

      Da haben wir's ja mal wieder, schreit der Schauspieler, dann fällt die Premiere aus!

      Der Assistent redet auf den Regisseur ein. Die Schauspieler oben auf der Bühne schauen beiseite oder lachen. Dann sagt der Regisseur: Ich habe es so und so gemeint und möchte Sie bitten. - Hmhm. Der Schauspieler hebt den Bühnendegen wieder auf. Sagt: Na ja, das muss ja sein. Wenn es bei der Generalprobe keinen Krach gibt, geht die Premiere schief! Steckt den Degen in die Scheide. Gelächter.

      "Sein oder Nichtsein", flüstert die Souffleuse. "Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage": sagt Joseph Tura mit bebender Stimme. Und wieder verlässt wie auf Stichwort der polnische Offizier Sobinski in der dritten Reihe den Zuschauerraum.

      Mit den Generalproben bekommt Susanne nur ein Endergebnis vorgeführt. Sie will nun an den Proben teilnehmen, in denen alles entsteht. Endlich wird es ihr gestattet. Der Dramaturg kann den Schauspielern erklären: Das Fräulein Burkard bewirbt sich an der Filmhochschule. Susanne saust unter dem Vorwand, den Schulfunk aufzubauen, ins Theater, besucht alle Opern, Schauspiele. Karten liegen für sie bereit. Bis das dicke Ende kommt: das Abitur. Die Klasse war durch Schulen gewandert, an unfähige, überforderte Lehrer geraten. Viele Schüler gaben vorher auf. Der Rest paukt, versucht nachzuholen. Acht fallen durch. In Mathematik war Susanne einmal gut. Sie schafft eine knappe Vier, ein "Mangelhaft" vor dem völligen Ungenügen, der Fünf. Bei der mündlichen Prüfung eine unerklärliche Gedankenleere. Selbst die binomischen Formeln sind ihr entfallen. Wenn man sie doch nach einem Film, einem Theaterstück fragen würde!

       "Wer sind Sie? Wie kommen Sie hierher?" Joseph Tura zu dem polnischen Offizier Sobinski, den er in seinem Schlafzimmer vorfindet. - "Bin abgesprungen mit einem Fallschirm." - "Ach, mitten in mein Bett?" In das Gespräch zwischen Joseph Tura und Offizier Sobinski, der aus England zurückkehrte, um den Spion Siletsky unschädlich zu machen, kommt Maria Tura. Es sei keine Zeit zu verlieren, erklärt sie. Sie müsse mit Siletsky essen gehen und ihn umbringen. Joseph versteht kein Wort, weist auf alle Fälle Sobinski in die Schranken: "Ich entscheide, mit wem meine Frau essen geht und wen sie umbringen soll." - "Haben Sie denn gar keinen Patriotismus?", entgegnet Sobinski. - Joseph Tura erbittert: "Jetzt hören Sie mal genau zu. Erst stehlen Sie sich aus meinem Monolog. Und dann stehlen Sie sich in meine Pantoffeln, und dann bezweifeln Sie meinen Patriotismus. Ich bin ein guter Pole. Ich liebe mein Vaterland, aber auch meine Pantoffeln! ... Ich bestelle Herrn Siletsky einfach ins Gestapo-Hauptquartier, und wenn ich ihn umgebracht habe, dann seid ihr vielleicht so liebenswürdig und sagt mir, warum.

      Georg brachte die Einkäufe nach oben. Zeit zum Reden war nicht geblieben. Auch war er unlustig, schlecht gelaunt. Die Wochenenden unterwegs mit seiner Band überanstrengten ihn offenbar. Er schaute auf seine Uhr, nahm seinen Lederrucksack auf.

      Susanne hätte es gern gehabt, wenn Georg gefragt hätte. Sie hätte gefragt, sie war immer neugierig auf Menschen gewesen. Frau Burkard, waren Sie auch in der Partei?, hätte Georg fragen können. Die Frage stellte sich jetzt immer. War man Mitläufer, gar engagiert gewesen? Vielleicht waren Georgs Eltern in der Partei gewesen, hatten ihre Ideale gehabt, möglicherweise sogar bis zum Ende an die Reformierbarkeit des Sozialismus, an den Sozialismus mit menschlichem Antlitz geglaubt. Im Alter von Georgs Eltern ging man freiwillig in die Sowjetunion, wurde man nicht wie nach dem Krieg als Spezialist gezwungen. Ich war Junger Pionier, hätte Susanne geantwortet. Gegen den Widerstand meiner Mutter und meiner alten Verwandten. Ich beschimpfte sie Schmarotzer, Parasiten. Sie nannten mich Verräter, denn mein Vater war als angeblicher Nazi im Lager umgekommen. In der FDJ war ich zunächst glühendes Mitglied, bis ich merkte, da funktionierte nichts außer den Fahnenappellen. Und Resolutionen wurden verfasst. Ich war in der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft, weil wir die Lehrerin mochten und uns ehrlich mit dem Volk aussöhnen wollten, dem wir soviel Unrecht angetan hatten. Ich war mit dem russischen Volk und seinen edlen Zielen einverstanden. Den kleinen Leuten sollte es gut gehen. Die sollten nicht auf der Straße rumstehen, nicht wissend, wohin vor Langeweile. Im Kulturbund war ich, weil ich wollte, dass wir in der Schule Zirkel gründeten. Und in der GST, der Gesellschaft für Sport und Technik. Da allerdings nicht freiwillig. Wir wussten, es war eine paramilitärische Organisation. Wir vom Jahrgang 38 waren ja alle Kinder, die den Krieg, Nachkrieg miterlebt hatten, kannten die Folgen vom Krieg, waren mit Flüchtlingskindern aufgewachsen, die ihre Heimat verloren hatten. Schon als die Polizei gegründet wurde, war uns nicht wohl. In der Bevölkerung war sie verachtet. Wir wollten die Gesetzlosigkeit nach dem Krieg natürlich


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