ABGRÜNDE. Peter Splitt
zu umklammern, was nicht gerade angenehm war. „Ich glaube, du brauchst dringend etwas frische Luft, Leo“, krächzte sie, in der Hoffnung, dass er verstand und dahin verschwand, woher er gekommen war. Tat er aber nicht, sondern klammerte sich noch fester an sie, während sie panisch versuchte, nach hinten auszubrechen. Durch den Mundschlitz sah sie seine labbernde Zunge, die sich leicht nach außen schob, während er sie rückwärts auf die Veranda drückte. Ein eng umschlungenes Paar stand in der hinteren Ecke, fest an das schmiedeeiserne Geländer gepresst. Eine Frau mit einer Vampirmaske kicherte und ließ ihre Hand im Hosenschlitz des Mannes verschwinden. Danach zog sie ihn mit sich in die Dunkelheit des anliegenden Gartens.
„Willst du dich nicht setzen?“, schlug Diana hoffnungsvoll vor.
„Nein“, sagte Leo und zog sie zu sich hinunter, mit einer Kraft, die ungefähr dem doppelten ihres Gewichts zu entsprechen schien.
„Isch will mit dir bumsen.“
„Äh nun…“, wollte sie gerade angesichts seiner geballten Unverschämtheit erwidern, da sackte er plötzlich in sich zusammen, und seine Arme rutschten von ihrem Hals. Der Alkohol hatte ihm den Rest verpasst. „Gott sei Dank!“
Sie versuchte erst gar nicht, ihn aufzufangen und vor einem Sturz zu bewahren. Erleichtert lehnte sie sich gegen das Geländer und atmete tief durch. Die Luft war klar und sauber, und es war immer noch warm hier draußen und allemal angenehmer, als in der gerammelt vollen Bude, mit dem Gestank nach Zigaretten, Schweiß und Alkohol. Das war es wirklich nicht, was sie gesucht hatte. Einen zahlungskräftigen Verehrer, warum nicht, aber bei den vielen Schnapsleichen da drinnen, konnte man noch nicht einmal eine vernünftige Unterhaltung führen. Außerdem hatte jemand diese riesigen Lautsprecher aufgestellt, aus denen laute Discobeats dröhnten und jegliche Konversation von vorne herein unmöglich machten. Und dafür habe ich mich extra in Schale geworfen, dachte sie, strich über ihren schwarzen Minirock und überlegte, was sie stattdessen noch unternehmen konnte.
Die hintere Tür knarrte und Diana drehte sich um. Zum Glück war es nicht Leo, der sich erholt hatte, sondern ein weiteres Pärchen, das bis auf die Masken kaum noch etwas an hatte und ebenfalls in Richtung der schützenden Dunkelheit des Gartens verschwand. Dianas Füße schmerzten bereits in den neuen High Heels mit den hohen Absätzen und so überließ sie Leo seinem süßen Schlaf mit den taufeuchten Träumen von Liebe und Sex und ging wieder ins Haus.
„Juhu, die Stripperinnen sind da!“, tönte es ihr entgegen.
„Auch das noch. Bleibt mir denn heute wirklich gar nichts erspart?“
Die erste Tänzerin, eine resolut wirkende Rothaarige, mit einer Augenblende begann sich hin und her zu schlängeln, während sie sich einiger unnötiger Kleidungsstücke entledigte. Als sie fast nackt war, setzte sie sich auf den Schoss eines männlichen Gastes und leckte an seinem Ohrläppchen. Während sie mit dem Po wackelte, zwang sie den Kopf des betrunkenen Mannes zwischen ihre Brüste, bog ihren Rücken durch und sprang nach hinten weg. Eine vollbusige Blondine wiederholte den gesamten Vorgang, beugte sich allerdings dabei soweit vor, dass ihre Brüste über sein Gesicht strichen. Der Mann versuchte nach ihnen zu grabschen, war aber viel zu voll um einen Treffer zu landen. Also versuchte er es erneut, grölte etwas in die Menge und schnalzte mit der Zunge. An dieser Stelle brachte der Gastgeber jeder Tänzerin ein Glas Fruchtbowle, die sie rhythmisch wackelnd in sich hinein kippten.
„Großer Gott! Brauchen Männer wirklich so etwas?“ fragte sich Diana. Vorsichtig drängte sie sich an der Meute vorbei, ging auf die Haustür zu und wurde prompt wieder aufgehalten. Diesmal vom Hausherrn persönlich, der ihr gefolgt war und sie nun zurück ins Haus bugsierte.
„Du willst doch nicht etwa schon gehen, hübsches Kätzchen?“, fragte er ohne eine Spur betrunken zu wirken.
„Deine Party ist wirklich wunderbar, aber ich muss leider…“
„…etwas trinken“, sagte er schnell, hielt ein Kristallglas in den Springbrunnen und stieß ihn ihr entgegen, sodass etwas Flüssiges auf ihre Corsage schwappte. Er hielt sein eigenes Glas hoch, prostete ihr zu und trank es dann in einem Zug leer. Zu ihrem Glück bescherte ihm das Getränk einen Hustenanfall und es gelang Diana, sich abzusetzen, als er sich zusammenkrümmte und nach Luft schnappte.
Sie ging nach draußen, warf die lächerliche Katzen-Maske in einen Müllcontainer und lief über die Straße. Zunächst wollte sie noch ein Stück zu Fuß gehen, um sich dann ein Taxi zurufen. Der ganze Abend kam ihr wie eine Niederlage vor. Erst als sie sich etwas entfernt hatte und die Musik zu einem leisen Surren verklungen war, wurde ihr bewusst, dass es bereits später war, als wie sie es zunächst angenommen hatte. Sie blickte sich um, aber No Way! Eine Rückkehr kam für sie nicht infrage.
Also stöckelte sie weiter die Zufahrtsstraße entlang in Richtung Zentrum. Plötzlich flatterte etwas über ihren Kopf hinweg. Sie blickte hoch und sah einen Schwarm schwarzer Vögel in den Himmel steigen. „Brr…, grausig!“
Ihre Schritte auf dem Asphalt kamen ihr ungewöhnlich laut vor. Mit ihren hohen Absätzen musste sie aufpassen, wohin sie trat. Schon kam die erste Häuserreihe in ihr Blickfeld. Die Häuser standen ein Stück versetzt zur Straße. Nur hier und da brannte Licht. Ein Wagen kam mit quietschenden Reifen auf sie zu gesaust. Diana zuckte zusammen. Sie konnte sich gerade noch an einem Laternenmast festhalten. Die jungen Typen in dem vollbesetzten Wagen grölten ihr durch die geöffnete Fensterscheibe etwas zu. Dann spurtete der Wagen davon. Sie war wieder allein.
Und wieder schallte nur das Klacken ihrer Absätze durch die Nacht. Sie hatte noch eine kleine Strecke vor sich. Vielleicht wäre es besser, doch gleich über das Handy ein Taxi zu rufen? Das Geräusch eines weiteren Wagens ließ sie aufhorchen. Dieser fuhr deutlich langsamer. Diana drehte sich um und sah das Licht zweier Scheinwerfer auf sich zukommen. Ich gehe einfach weiter, dachte sie, beschleunigte ihre Schritte und ignorierte den Schmerz ihrer Füße in den neuen Schuhen. Eine dunkle Limousine fuhr langsam an ihr vorbei. Sie versuchte, möglichst unauffällig hineinzuschauen, konnte jedoch den Fahrer nicht erkennen. Jetzt bremste er an dem Stoppschild weiter vorne. Diana konnte die Bremslichter sehen, doch der Wagen blieb stehen. „Verdammt! Warum biegt er nicht ab?“ Sie spürte, wie sich ihre Muskeln vor Angst verkrampften. „Nun fahr schon endlich weiter, du Idiot.“ Ob der Fahrer sie beobachtete?
„Das Handy…!“ Natürlich, sie hatte es ganz vergessen. Als sie es aus ihrer Handtasche hervor zerrte, wurde das Motorengeräusch lauter und der Wagen bog um die Kurve und verschwand.
Sie blickte hinter ihm her und kam sich irgendwie selten dämlich vor. „Jetzt leide ich schon unter Halluzinationen“, murmelte sie zu sich selbst, behielt aber das Handy fest in ihrer Hand. Sie ging schneller und überquerte die Straße. Genau dort, wo der Wagen zuvor angehalten hatte. Ihre Füße brannten, doch sie drosselte ihr Tempo nicht. Auf der linken Straßenseite lag das neue Einkaufszentrum mit Filialen von Lidl und Aldi. Tagsüber tummelte sich hier das wahre Leben, jetzt jedoch lag alles verlassen da. Sie fröstelte. Endlich nahm sie das Handy hervor und wählte die Nummer der Taxizentrale. Nichts rührte sich.
„Ein Funkloch! So ein Mist!“ Sie musste noch etwas weiter gehen. Jetzt beschlich sie wieder das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie ging noch schneller. Am Rande des Einkaufzentrums war niemand, bloß ein Wagen. „Komisch, der ist mir zuvor noch gar nicht aufgefallen. Großer Gott, ist das etwa derselbe Wagen von vorhin?“
Diana rannte los. Der Wagen kam näher. Mit der linken Hand wählte sie den Notruf und hielt sich das Handy ans Ohr. „Verdammt, immer noch nichts!“ Da war kein Piepton, kein Freizeichen, nichts. Das Display zeigte Netzsuche an. Jetzt war der Wagen auf ihrer Höhe und fuhr langsam neben ihr her. Der Fahrer spielte ganz offensichtlich mit ihrer Angst. Sie hielt sich das Handy ans Ohr und tat so, als ob sie telefonierte. Da beschleunigte der Wagen und verschwand in der Dunkelheit vor ihr. „Nur noch ein kleines Stück weiter! Hinter dem Einkaufszentrum bauen sie ein paar hohe Gebäude. Wenn ich daran vorbei bin, bekomme ich bestimmt wieder eine Verbindung.“
Das Licht der Straßenlaterne flackerte. Irgendetwas stimmte nicht mit