Dunkle Tiefen der Seele. Bärbel Junker

Dunkle Tiefen der Seele - Bärbel Junker


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ein Hornissenschwarm schwirrten die Worte durch seinen fast zerspringenden Schädel. GE...LIN...GEN! GE... „Nicht! Hör endlich auf!“, schrie der Mörder und hielt sich seinen dröhnenden Kopf. „Ich will endlich meine Ruhe“, flüsterte er zitternd. „Nur ein wenig Ruhe.“

      Sechs Wochen waren seit Paul Kowalskis Tod vergangen. Langsam, Schritt für Schritt, hatte er zur Normalität zurückgefunden. Durch sein geschicktes Taktieren hatte niemand aus seiner Umgebung etwas bemerkt. Nicht der Schatten eines Verdachts war auf ihn gefallen.

      Er hatte ihr helfen können einen Teil ihres inneren Grabens zuzuschütten und die beiden losen Enden ihres Lebensweges, der sich spaltete, als das Schicksal sie traf, wieder notdürftig zusammenzufügen. Noch war nicht alles vollbracht, aber die Zeit würde ihr helfen, das entsetzlichste Kapitel ihres Lebens irgendwann endgültig abzuschließen.

      Seinen tödlichen Irrtum, der mit Fred Kowalskis grauenhaftem Tod endete, hatte er in die verborgensten Windungen seines Gehirns verbannt. Er hatte den Mord an einem Unschuldigen zwar verdrängt, doch die winzige, penetrante Stimme seines Gewissens zerrte seine Tat immer wieder aufs Neue aus den Tiefen seiner Erinnerung hervor.

      Er wehrte sich gegen ihre Einflüsterungen, ihre Vorwürfe und hatte ein beachtliches Talent dafür entwickelt die Dinge so auszulegen, dass sie fugenlos in sein neues, verändertes Weltbild passten. Er hatte getötet, na und? Ein perverser Mörder war seiner gerechten Strafe zugeführt worden. Was sollte daran nicht richtig sein? Hätte er ihn nicht getötet, wäre diese Ausgeburt der Hölle straflos davongekommen. Er hatte diesen Sadisten töten MÜSSEN!

      Die Flasche mit dem Aconitin hatte er zu den vielen anderen Giftflaschen gestellt, die er schon bald entsorgen würde und damit den letzten Beweis seiner Tat. Durch seine Entscheidung, das Übel in Gestalt Paul Kowalskis gewaltsam aus ihrem Leben zu verbannen, war sie dem Leben zurückgegeben worden. Ja, er war glücklich über Kowalskis grauenhaftes Ende. Jetzt konnte sie endlich wieder ihr eigenes Leben führen. Niemand, außer ihm, wusste von der grausamen Erfahrung, die sie hatte machen müssen. Keiner kannte das Ausmaß ihres Leids. Und so sollte es auch bleiben.

      Es war vorbei! Endlich vorbei! Und doch fühlte er sich an manchen Tagen so zweigeteilt, so fremd in seiner eigenen Haut. Aber was machte das schon. Wichtig war nur, dass sie ihr Leben endlich dort weiterführen konnte, wo es so brutal unterbrochen worden war.

      Er war es zufrieden, wenn da nur nicht diese schrecklichen Albträume gewesen wären. Seit dem Tod der beiden Männer quälten sie ihn jede Nacht. Doch sie würden mit der Zeit vergehen. Daran glaubte er felsenfest, musste es, um zu überleben.

      Das Schlagen der antiken Standuhr schreckte ihn auf. „Mein Gott, so spät schon“, murmelte er verwirrt. Wo war die Zeit geblieben? Saß er etwa schon seit zwei Stunden hier, an seinem Sekretär? Er wusste es nicht mehr und schob den Gedanken beiseite.

      Hatte er nicht etwas vorgehabt? Aber was? Etwas Wichtiges? Er hatte es vergessen wie so vieles andere auch.

      „Am besten lege ich mich früh hin. Vielleicht kann ich endlich wieder einmal durchschlafen“, murmelte er. „Nur, wollte ich nicht irgendwohin?“, grübelte er laut und strich sich über die Stirn. „Was ist nur mit mir los? Ich kann mich einfach nicht erinnern.“ Er stand auf und reckte sich. Und plötzlich fiel es ihm wieder ein.

      „Natürlich! Das hätte ich doch beinahe glatt vergessen. Jetzt muss ich mich aber sputen“, murmelte der Mörder lasch. Er schlurfte ins Schlafzimmer. „Oder sollte ich mich doch lieber hinlegen?“, flüsterte er.

      AUF DER VERNISSAGE

      Julia drehte sich vor dem hohen, dreiteiligen Kristallspiegel und musterte sich kritisch von allen Seiten. „Was meinst du, Karla?“, fragte sie. „Soll ich den türkisfarbenen Seidenanzug anbehalten?“

      „Unbedingt, Kleines. Er sieht toll aus zu deinem dunklen Haar und dem schwarzen Onyx-Schmuck. Jetzt noch die passenden Schuhe und die anderen Frauen werden vor Neid erblassen.“

      „Das kornblumenblaue Seidenkostüm und der Platinschmuck als Kontrast zu deinem mahagonifarbenen Haar ist aber nicht weniger attraktiv, Karla. Und deine hochgesteckte Frisur ist einfach toll“, sagte Julia bewundernd.

      „Mit anderen Worten, Schwesterherz: „Du meinst, wir sind der Hit des Abends, richtig?“, lächelte Karla.

      „Genau!“

      „Dann auf ins Vergnügen, Kleines.“

      „An sich habe ich gar keine rechte Lust“, erwiderte Julia trübsinnig. „Aber ich muss mich dort unbedingt sehen lassen.“

      „Du hast mich eingeladen, also streng dich ein wenig an und enttäusche deine greise Schwester nicht“, neckte Karla sie.

      „Ich werde mich bemühen“, erwiderte Julia lächelnd.

      Beschwingten Schrittes verließen die beiden Schwestern Julias elegante Wohnung, die sie sich im obersten Stockwerk eines ihrer Mietshäuser eingerichtet hatte und die sich über die gesamte Etage erstreckte.

      Auf der Treppe der zweiten Etage blieb Julia plötzlich stehen. „Da war doch noch was“, murmelte sie.

      „Hast du was vergessen?“

      „Ich weiß nicht. Ich dachte ...Nein.“ Julia schüttelte den Kopf und stieg weiter die Treppe hinunter. Vor dem Haus stiegen sie in ihr weißes Mercedes Cabriolet und fuhren nach Pöseldorf zur Vernissage.

      Als sie gegen einundzwanzig Uhr dort eintrafen, war das Spektakel bereits in vollem Gange. Künstler und Prominente aus Politik und Business; Schauspieler und Ärzte; Sammler und solche, die es gerne wären; Kunstsachverständige und andere, die sich dafür hielten; Kapitalanleger und wahre Kunstliebhaber; Journalisten und Kritiker; Spinner und Exzentriker, sie alle drängten sich am „Kalten Buffet“.

      Als Skelette verkleidete Kellner kämpften sich mühsam durch die unaufhörlich schnatternde Menge und reichten Tabletts mit Sektgläsern herum.

      Julias und Karlas Garderobe gehörte mit zu der Schlichtesten in diesem Theater, aber mit Sicherheit waren sie die am geschmackvollsten und elegantesten gekleideten Gäste in diesem Heer männlicher und weiblicher Paradiesvögel.

      Geübt durch unzählige ähnliche Besuche schlängelte sich Julia zusammen mit ihrer Schwester geschickt durch die trinkende, essende, schnatternde und johlende Menge. Sie versuchten mit wechselndem Erfolg einen Blick auf die ausgestellten Arbeiten zu erhaschen.

      Doch was sie sehen konnten gefiel ihnen absolut nicht. Die dem Stil Bacons nachempfundenem Bilder mit Anklängen an den abstrakten Julian Schnabel – nach seiner Tellerbilderzeit – waren Julia und Karla zu blutrünstig und zu deprimierend.

      Die verstümmelten, menschlichen Körper in rosa und grünlichem Weiß sahen aus wie hingemetzelte Leichen auf einem Schlachtfeld. Obszöne Frauenakte; daneben Rinderhälften, aus denen kadmiumrote, mit Krapplack abgeschwächte Blutströme flossen; verendende Rinder und Dromedare mit heraushängenden Zungen und vor Durst weit aufgerissenen Mäulern, vor einem vor Hitze wabernden – von der Farbwirkung her ausgezeichnet getroffenen – Hintergrund stehend und so ging es weiter von Bild zu Bild.

      Eine bemerkenswert große Anzahl der Bilder zierte bereits der begehrte rote Punkt, der Verkauft signalisierte. Grauen vermarktet sich in unserer pervertierenden Welt eben ausgesprochen gut. Schönheit und Harmonie, Ethik und positive Kreativität sind in dieser schnelllebigen, unaufhörlich nach neuen, immer stärkeren Reizen suchenden Gesellschaft anscheinend nicht mehr gefragt.

      Erschöpft von dem Lärm und der Hektik zogen sich Julia und Karla neben eine, für den heutigen Abend in die Ecke verbannte, grob gearbeitete Holzskulptur – vielleicht von Baselitz? – zurück, wo zwei einsame Stühle zum Sitzen einluden. Julia nippte in sich gekehrt an ihrem Sekt, und Karla musterte die hektische Meute um sie herum.

      Ein schrilles: „Julia, meine Liebe, hier haben Sie sich versteckt“, schreckte sie auf.

      Ach


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