Elementa. Daniela Kappel
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Impressum
Texte: © Copyright by Daniela Kappel
Cover: © Copyright by Wolkenart –
Marie-Katharina Wölk,
www.wolkenart.com
Verlag: Daniela Kappel
Hauptstraße 25
2542 Kottingbrunn
Korrektorat: Roswitha Uhlirsch
www.spreadandread.de
Prolog
Der würzige Geruch ausgewählter Hölzer und Kräuter waberte durch die alten Gemäuer. Überall im Tempel hatte man Räucherschalen über den Kohlebecken angebracht.
Neben dem Duft war da noch etwas anderes, das schwer über dem Tempel – ja, der ganzen Stadt – hing. Stille. Sie füllte die großen Hallen und langen Gänge im Tempel ebenso wie die hölzernen Hütten und verwinkelten Pflasterwege der Stadt.
Normalerweise belebte das Lachen von Kindern, geschäftiges Treiben, Gesang und Musik die Luft. Doch nun war das einzige Geräusch das Flüstern des Windes in den Baumwipfeln. Wie ein lebendiges Wesen schlängelte sich ein Lufthauch durch die Kronen, ließ Blätter rascheln und zerrte an den jungen Trieben. Mit einem leisen Seufzen löste sich der Windwirbel vom Waldrand und pfiff über die mit Stroh bedeckten Dächer der Stadt. Dabei riss er Sand und Blumensamen mit sich, die kreiselnd mit dem Luftstrom durch die Gassen fegten. Beim Tempel angelangt vollführte der Windhauch ein paar enge Spiralen um den Ostturm, ehe er zum Turmfenster hereinwehte.
Sirinas langes blondes Haar wirbelte einen Augenblick durcheinander, bevor sie den Wind versiegen ließ. Sand und kleine Blätter rieselten auf den blank polierten Steinboden. Der Luftzug war angenehm kühl auf ihren heißen, tränennassen Wangen gewesen. Rasch wischte sie sich mit dem Ärmel ihrer Trauerrobe darüber und zwang sich ein paar Mal tief durchzuatmen.
Du musst dich beruhigen! Deine Schwestern brauchen dich jetzt!, sagte sie sich selbst und drehte sich vom Fenster weg. Mit ausladenden Schritten durchquerte sie das Turmzimmer und eilte die enge Wendeltreppe hinab, wobei ihr schwarzes Kleid und der nachtblaue Umhang wie eine Fahne hinter ihr her wehten. Man wartete bereits auf sie.
Am Absatz der Treppe, leicht verborgen in einer Nische, stand Mara, den Blick aus einem der riesigen Buntglasfenster gerichtet, die den umlaufenden Gang säumten. Als Sirina sie passierte, stieß sie sich von der rauen Steinmauer ab und gesellte sich an ihre Seite.
„Ylvie und Calla erwarten uns bereits in der großen Halle“, ließ Mara ihre Schwester wissen. Diese quittierte die Information mit einem steifen Nicken. Das hatte sie vermutet. Ihre beiden jüngeren Schwestern wollten jede verbleibende Minute nutzen, um bei ihrem Vater zu sein.
Sirinas Herz fühlte sich schwer wie Blei in ihrer Brust an. Erneut wollten Tränen in ihre Augen treten, doch sie biss die Zähne fest zusammen und zwang sich selbst stark zu sein. „Bist du bereit?“, fragte sie Mara und ergriff die klammen Finger ihrer Schwester.
Mara verzog das Gesicht. „Und wenn ich es nicht wäre?“, wollte sie wissen.
Sirina schenkte ihr ein trauriges Lächeln. So unterschiedlich die vier Schwestern auch sein mochten, Mara war das Ebenbild ihrer Mutter. Mit ihren rosigen Wangen und den glänzenden haselnussbraunen Haaren erinnerte sie Sirina jeden Tag an ihre Mutter, die im Kindsbett der jüngsten Schwester verstorben war. Und nun mussten sie auch noch ihren Vater zu Grabe tragen. Den mächtigsten Mann, den die Menschheit je gesehen hatte. Den Mann, der sie alle vor dem Untergang gerettet hatte, und der jetzt mit seinem Leben für das so vieler anderer bezahlte.
„Es muss sein“, erwiderte Sirina schlicht und drückte Maras Hand. Damit waren sie auch schon vor dem riesigen Eichenportal angekommen, das in die größte Halle des Tempels führte.
Die Wachen nickten ihnen ehrerbietig zu und öffneten die reich verzierten Flügel des Tors für sie.
Sirina ließ die Hand ihrer Schwester los und schritt voran in den Saal. Massen an Menschen drängten sich in dem kathedralenartigen Raum. Es schien, als wäre die ganze Stadt hier versammelt.
Leises Gemurmel erhob sich, als Sirina und Mara rechts und links neben der Bahre Aufstellung nahmen. Es handelte sich um einen mit wunderschönen Ornamenten behauenen Steinaltar, zu allen Seiten geschmückt mit Blumen.
Ylvie und Calla hielten jede eine Hand ihres Vaters. Sie waren neben dem Sterbebett niedergekniet und hatten ihre Gesichter in den weichen Kissen, auf denen ihr Vater ruhte, vergraben. Callas Körper wurde von lautlosen Schluchzern geschüttelt, während ihre Schwester mit der freien Hand so fest das seidene Laken umklammert hielt, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.
Als sie die Anwesenheit ihrer Schwestern bemerkten, erhoben sie sich pflichtbewusst, die Blicke starr auf den Leib ihres Vaters gerichtet.
Auch Sirina sah ihn an. Sein langes Haar, das immer die Farbe von Honig gehabt hatte, lag nun schlohweiß um sein eingefallenes Gesicht aufgefächert. Tiefe Furchen zeugten von einem Alter, das seine Züge wenige Tage zuvor noch nicht preisgegeben hatten.
Obwohl Sirina, die Älteste der vier Schwestern, gerade einmal achtzehn Winter zählte und auch ihre Mutter bei deren Tod kaum doppelt so alt gewesen war, lebte ihr Vater schon so lange wie die Menschheit selbst. Warum, wusste sie nicht. Keiner wusste das. Genauso wenig, wie keiner mit Sicherheit wusste, warum nun sein Ende gekommen war.
Die Kämpfe hatten ihm viel Kraft abverlangt und doch musste es etwas anderes gewesen sein, das ihm die Lebensessenz und all seine Macht entzogen hatte.
Sirina riss ihren Blick von der leblosen Gestalt ihres Vaters und erhob die Stimme. Sofort verstummte jegliches Geflüster. Ihre Worte hallten laut und klar durch den Saal.
„Für uns alle, unsere Kinder und Kindeskinder, für das Land, auf dem wir leben, die Berge und Seen, die Flüsse und Wälder, alle Tiere …“ Sie machte eine Pause und schluckte schwer, „… hat er gekämpft. Stets um Frieden und Eintracht bemüht war er gerecht und herrschte mit einer starken Hand. Jene, die ihm die Stirn boten, die unersättlich und unbeugsam waren, die mit ihren Taten uns alle und die Natur in Gefahr gebracht haben, wurden gerichtet. Sie haben ihre Strafe erhalten und wurden verbannt.“
Ein Raunen ging durch die Menge.
Bei der Erinnerung daran, wie ihr Vater den zig Männern und Frauen ihre Kräfte entzogen hatte, wie sie gebeugt und machtlos verjagt worden waren, lief Sirina ein eiskalter Schauer über den Rücken.
„Sein Opfer verpflichtet uns, ihn für ewig zu ehren und sein Andenken zu erhalten. Als seine Töchter übernehmen wir die Führung des Tempels und all seiner Anhänger.“
Erst jetzt erlaubte Sirina sich, ihren Vater wieder zu betrachten. Er war ein stattlicher Mann gewesen und doch sah sein Körper nun dürr und schwach aus.
Sie trat an Callas Seite und legte ihrer jüngsten Schwester, die gut einen Kopf kleiner war und ihr dunkles Haar zu einem langen Zopf geflochten hatte, die Hand auf die Schulter. Calla richtete ihre großen tiefblauen Augen auf Sirina und nickte kaum merklich.
Einen Wimpernschlag später setzte ein steter, anschwellender Takt ein. Durch das hohe, offene Fenster, vor dem der Altar aufgebaut war, konnte man beobachten, wie der Himmel seine Schleusen öffnete und Regen sich wie eine graue Decke über das Tal legte.
Sirina drückte auffordernd die Schulter ihrer Schwester und Callas Stimme erhob sich laut über das Prasseln des Regens.
„Die Macht so alt wie selbst das Leben, im ew’gen Streit für Heil und Fried, bezwungen törichtes Bestreben, geopfert schließlich gar zum Sieg.“
Das Blut rauschte laut in Sirinas Ohren und die feinen Härchen auf ihren Armen hatten sich kerzengerade aufgerichtet. Sie konnte die Macht der Worte spüren, wie sie durch ihre Adern pulste und die Luft um sie herum auflud.
Ylvie trat einen Schritt an den Altar heran und hob ihre Hände. Die zarten Blumenarrangements, die den Altar umringten, erzitterten unter ihrer Kraft. Langsam rankten sich die Triebe der Mittagsblumen