DAS GLÜCK IM AUGENWINKEL. Nancy Salchow
der Nachbarschaft.
Er schob eine Tasse zu ihr hinüber und setzte sich an den Küchentisch.
„Das hätte ich doch auch machen können.“
„Es ist nur eine Tasse Tee, Frau Jäger. Den bekomme ich schon noch alleine hin“, antwortete er. „Und überhaupt haben Sie schon mehr als genug getan.“
Sie musterte ihn mütterlich. „Nicht genug, mein Junge. Nicht genug.“
Ihr mitfühlender Blick ähnelte dem seiner Schwester. In ihren hellgrauen Augen erkannte er noch immer dieselbe Sorge, dasselbe wortlose Mitleiden, das sich ihm bei der ersten Begegnung nach dem tragischen Ereignis dargeboten hatte. Sie redete viel, ohne gewisse Dinge auszusprechen – ein Taktgefühl, das er bei vielen seiner Nachbarn in den schlimmen ersten Tagen vermisst hatte. Und einer der Gründe, warum er jede Hilfe von Frau Jäger ohne Zögern angenommen hatte.
„Ich komme zurecht, Frau Jäger. Wirklich. Außerdem wird es Zeit, dass ich mich wieder dem Alltag stelle. Und dazu gehört unter Umständen eben auch, eine Tasse Tee zu kochen.“
Er lächelte. Ein Lächeln, das sie nur zaghaft erwiderte, während sie ihre faltige Hand auf seine legte.
Er fragte sich, wie alt sie wohl war. Eine Frage, die er sich oft gestellt, aber anstandshalber nie ausgesprochen hatte. Mitte Sechzig? Bereits über Siebzig? Ihr Haar, im selben Grau wie ihre Augen, hatte sie zu einem engen Dutt gebunden. Über dem hellblauen knielangen Kleid, das ihre breiten Hüften umschloss, trug sie eine Strickjacke in undefinierbarer Farbe. Simon wusste, dass sie alleine lebte, aber zum ersten Mal seit seinem Einzug in die Kastanienallee und ihrer ersten Begegnung vor sechs Jahren fragte er sich, ob auch sie möglicherweise einen Verlust zu verschmerzen hatte. Vor Jahren vielleicht.
„Ich habe Lammbraten gemacht“, sagte sie. „Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen zum Abendessen ein bisschen vorbeibringen.“
„Das ist wirklich sehr nett, aber …“
„Das Aber können Sie gleich wieder aus Ihrem Wortschatz streichen, mein Junge. Wenigstens essen müssen Sie richtig, wenn Sie schon nicht arbeiten.“
„Oh, ich arbeite“, widersprach er. „Auch schon in den letzten Monaten, als ich noch bei meiner Schwester gewohnt habe. Wozu gibt es das Internet, Telefon und die Post?“
„Das freut mich.“ Die Sorge in ihrem Blick wich Erleichterung. „Und wer gut arbeitet, muss auch gut essen.“
„Das ist aber wirklich nicht nötig.“
„Und ob es das ist“, antwortete sie, und ihr Tonfall machte unmissverständlich klar, dass sie keinen weiteren Widerspruch duldete.
Simon lehnte sich zurück und umschloss seine Tasse mit beiden Händen. Vielleicht war es doch keine schlechte Idee, sich ihrer charmanten Diktatur zu unterwerfen. Lammbraten zum Abendessen, die Übersetzung des neunten Kapitels von Clara Haiges und vielleicht ein Glas Whiskey vor dem Schlafengehen. Irgendwie würde ihm das mit der Ablenkung schon gelingen. Zumindest für heute.
*
Er fragte sich, ob die mangelnde Begeisterungsfähigkeit für das Manuskript vor ihm tatsächlich den Leistungen der Autorin oder seiner eigenen emotionslosen Verfassung zuzuschreiben war. Er erinnerte sich an die Übersetzung ihres letzten Werkes und den Tatendrang, mit dem er damals an die Arbeit gegangen war. Eine Euphorie, die ihm jetzt nur noch wie eine blasse Kopie seiner eigenen Persönlichkeit erschien.
Ohne Zweifel, es musste an ihm liegen. Clara Haiges war eine Könnerin. Eine Schande, dies auch nur in Frage zu stellen.
Die Buchstaben auf dem Bildschirm vor ihm verloren an Kontur, bevor er sich erneut disziplinieren konnte. Er schaute auf die Uhr. Kurz nach Mitternacht. Vielleicht war es an der Zeit, sich schlafen zu legen. Die zweite Nacht in seinem Bett. Und vielleicht die erste, in der er es wenigstens zu ein paar Stunden Schlaf bringen würde.
Rechts neben der Tastatur entdeckte er das Buch. Welch seltsame Idee, es mit ins Arbeitszimmer zu nehmen. Und doch ließ ihn der Drang nicht los, es bei sich zu tragen. Ihr Buch. Die letzten Worte, die sie gelesen hatte. Eine merkwürdige Nähe, erzeugt durch ein simples Buch von ihrem Nachtschrank. Eine Nähe, die schmerzte und doch an Bedeutung zu wachsen schien.
Er legte die Hand auf den Buchdeckel. Das Glück im Augenwinkel. Erneut fiel ihm der Buchtitel auf, der nicht so recht zu den verzweifelten Worten passen wollte, die er am Tag zuvor gelesen hatte.
Er schob die Hand zwischen die Seiten und schlug das Buch auf.
Ich bin gestern zum ersten Mal allein in den Park gegangen. Habe mich zum ersten Mal auf unsere Bank gesetzt. Es hat geregnet. Aber ich war dankbar für den Regen, denn außer mir war niemand dort. Nur ein flüchtig vorbeihetzender Mann im dunklen Mantel, der sich seine Aktentasche über den Kopf hielt. Ein ganz klein wenig hat er mich an dich erinnert und an deine ersten Jahre im Architekturbüro. Wie ehrgeizig du damals warst. So voller Energie. Und ich musste daran denken, wie wenig von dieser Energie am Schluss übrig geblieben war. Der ständige Stress und der Zeitdruck haben dich zermürbt und all deiner Illusionen beraubt. Heute frage ich mich, ob ich es hätte ändern können. Ob ich es hätte ändern müssen. Ich bin mir sogar sicher, dass es meine Pflicht gewesen wäre. Vielleicht wäre dann vieles anders gelaufen. Vielleicht wären die Wege andere gewesen. Aber letztendlich wären wir sie gemeinsam gegangen. Und vermutlich würden wir sie noch immer gemeinsam gehen.
Ich glaube, dass ich mir eine Erkältung im Regen geholt habe, aber es macht nichts. Im Buchladen interessiert es niemanden, ob ich heiser bin. Die meisten Leute reden eh mit Herrn Volkmann, während ich mich im hinteren Bereich dem Sortieren der Regale widme. Doch in Wahrheit ist jede Tätigkeit nur farblose Kulisse für meine Gedanken. Gedanken, die noch immer, nach all der Zeit, nur um dich kreisen.
Er schaute auf die Seitenzahl. 139. Waren die Worte gestern nicht noch ganz andere gewesen? Ähnlich in ihrer Tiefe. Ähnlich in ihrem Schmerz. Aber dennoch andere Worte? Farblose Kulisse für meine Gedanken. War nicht jede Tätigkeit in seinem neuen Leben ebenfalls Kulisse? Farblose Kulisse für immer wiederkehrende Gedanken?
Er schlug das Buch zu und drehte die Flasche neben sich auf. Ein kleines Glas Whiskey vor dem Schlafengehen, das vermutlich eine beruhigendere Wirkung haben würde als aufwühlende Lektüre dieser Art.
Und überhaupt, er sollte aufhören zu lesen.
*
Sie schob den Bleistift in den Anspitzer, drehte ihn einige Male und betrachtete die hölzernen Kringel, die in den Papierkorb neben ihrem Schreibtisch fielen. Nach all den Jahren hatte sie ihre Abneigung gegen Kugelschreiber noch immer nicht abgelegt. Sie mochte den weichen Druck des Bleistifts auf rauhem Papier, liebte es, wie die Worte aus silbergrauen Buchstaben die Seiten füllten.
Seit Patricks Tod hatte das Schreiben jedoch eine ganz andere Bedeutung angenommen. Kein harmloser Zeitvertreib, keine unschuldigen Kritzeleien. Vielmehr war es zu einer ganz eigenen Form der Trauer geworden. Ein verzweifelter Weg, das letzte bisschen Illusion seiner Anwesenheit am Leben zu erhalten. So absurd es auch war – und so bewusst sie sich diese Tatsache auch immer wieder machte –, für die wenigen Minuten, in denen sie die Briefe an ihn in das Tagebuch schrieb, hatte sie das Gefühl, dass er da war. Dass sie mit ihm sprach und er ihr zuhörte. So wie früher.
Sie strich mit den Fingern über die letzten Zeilen. Aber in Wahrheit ist jede Tätigkeit nur farblose Kulisse für meine Gedanken. Gedanken, die noch immer, nach all der Zeit, nur um dich kreisen.
Langsam schloss sie die Augen. Sie hatte im Laufe der letzten Monate das Weinen nahezu gänzlich verlernt. Ein Umstand, für den sie dankbar war. Tränen raubten ihr Kraft. Kraft, die sie brauchte, um der Welt oder zumindest dem, was für sie davon übrig geblieben war, die Stirn zu bieten.
*
Ihr Lächeln strahlt wie die Sonne, die sich ihren Weg durch die Äste des Kirschbaumes sucht. Ein paar goldglänzende Strähnen haben sich aus ihrem Zopf gelöst