Die kalten Spuren im heißen Wüstensand. Maxi Hill
Retter…!«
Ein anderer stimmt ein: »Und wofür das viele Geld!«
Der Beschuldigte zieht eine Waffe unter dem Kittel hervor und streckt seinen Arm in die Luft. Zwei junge Männer springen herbei, reißen den Arm des Mannes herunter, drücken seinen Körper in den steinigen Sand und einer stellt seinen Fuß darauf.
Ashanti spürt, dass etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Ehe sie sich versieht, wird sie von Amari, einer der Frauen Mbalus, in das Innere der Gruppe gezerrt. Amari, die Starke – das bedeutet ihr Name - drückt Kanzi an die Seite der Schwester, rabiat, aber wie es scheint aus triftigem Grund. Ashanti ist trotz der Härte der Frau sogar erleichtert. An solches Gezeter, an Streit und Selbstjustiz hat sie keine guten Erinnerungen…
Die Frauen sagen: Hier gilt das Gesetz der Wüste. Was immer das heißen mag, es klingt nicht gut. Noch weniger gut klingen die Schüsse, die nur kurze Zeit später ganz nah und doch so dumpf in der flirrenden Hitze grollen. Frauen verbergen ihre Kinder unter den Röcken und auch Ashanti drückt ihre Hände reflexartig auf Kanzis Ohren. So hätte es Mama auch gemacht.
Zu jener Stunde der Angst sagt sie den Satz zum ersten Mal zu ihrem Bruder, unter Tränen. Diesen Satz wird sie noch einige Male wiederholen, bis Kanzi ihn auswendig kann, wie sie das Märchen auswendig kann: »Wenn wir je getrennt werden sollten, wir treffen uns in Deutschland! Hörst du? Deutschland!«
Ob es das Wüstengesetz wirklich gibt, fragt sie später eine der Frauen, die mit zwei Kindern auf der Flucht ist, wie Dzemila es war. Diese Frau steht zumeist abseits und spricht kaum ein Wort. Diese Frau ist nicht so schön, wie Dzemila war. Sie sieht nicht einmal aus wie eine Frau. Sie trägt Hosen und Jacke aus derbem Stoff mit grünbraunen Flecken. Grad so, wie der rettende Kente ihrer Mutter damals bei ihrem geliebten Haus. Hätte diese merkwürdige Frau nicht an Mutters Grab mit der hellsten und erbaulichsten Stimme von all den Frauen gesungen, Ashanti würde meinen, sie sei ein Kämpfer aus dem Busch, oder eine von denen, die nach Vater gesucht hatten.
Dieses gesetz der Wüste gebe es, antwortet die Hosenfrau, aber es sei wie mit jedem Gesetz. Es gilt nicht für die Ehrlosen…
Das Verhalten in der Gruppe ist nach den Schüssen gespalten. Ashanti hat nicht alle Gesichter der Männer in klarer Erinnerung vor sich, aber sie glaubt, seit dem Vorfall fehlt einer… Der kleine kräftige Mann mit dem kugelrunden Kopf und den feuchten, flinken Augen…
Erst später wird sie belehrt: Mbalu habe jetzt das Sagen und man habe Mbalu zu folgen, was immer er befinde.
Sie hat genug von den Erwachsenen, die sich fortwährend streiten müssen. Sie hat genug von der Angst und der Hitze und dem Durst und dem Hunger. Sie hat genug von den Blicken der Frauen, die jetzt anders sind als vorher, als Mutter noch bei ihnen war. Sie hat genug von den Kommandos der Männer, die den Frauen die niederen Dinge aufbürden. Sie hat genug vom ewig gebeugten Kopf, weil sie nur noch öden Sand und lästige Steine sieht, die nur da liegen, um darin zu versinken oder darüber zu stolpern. Sie will nicht stolpern. Sie will aufrechten Ganges gehen, wie Mutter Dzemila gegangen ist – erhaben, trotz schwerer Last auf dem Kopf. Sie will in den Himmel schauen und will den unfähigen Göttern zeigen, dass sie nicht kleinzukriegen ist. Ihr ist auch egal, ob er Kalunga heißt oder Nzambi, ob er sogar auf Allah hört oder sich als Naturgott huldigen lässt. Keiner von denen stellte sich schützend vor sie, nicht früher und nicht auf der unsäglichen Flucht vor jenen, die sie immer wieder zurück in ihre todbringende Heimat treiben wollten.
Der Hunger und der Durst. Die fehlende Hygiene. Die Hitze bei Tage und die Kälte bei Nacht. Das alles ist zu viel für ein Mädchen aus einfachem aber behütetem Haus.
Den halben Tag über laufen sie durch die Unendlichkeit. Dann wird die Hitze zur Qual und sie lagern an einem Platz mit ein wenig Schatten. Dicht gedrängt hocken sie beieinander, die Köpfe im Schatten, die blanken Füße im Sand unter der heißen Sonne. Der Geruch schwitzender Körper hängt in der Luft, die kein Windhauch bewegt. Zum Glück, sagen die Alten. Ein Sandsturm wäre ihr Untergang.
Ashanti schließt ihre Augen, als könnte es ihr helfen, dem Inferno der Wüste zu entkommen. Der donnernde Bass eines der Männer zerschneidet die Luft. Ein Klatschen und ein dumpfer Aufprall. Dann der gellende Schrei einer Frau. Von der Hitze benommen blinzelt Ashanti in die flirrende Luft. Eine der Frauen liegt am Boden in der stechenden Sonne. Ihr Gesicht ist geschwollen, ein Auge - zu einem einzigen Schlitz geworden – blutet. Zwei junge Männer grinsen einen älteren an; ihre Worte, wie Pfeilspitzen scharf und abstoßend wie fauliges Fleisch, klingen verächtlich. Der Mann stürzt sich auch auf die beiden, was einen Tumult auslöst, den keiner braucht. Mbalu meint, nicht in dieser Hitze, wo alle zur Ruhe kommen sollten und Kraft schöpfen für den Marsch durch die kühlere Nacht. Er geht sogar zwischen die Streithähne. Das eiserne Ding in seiner Hand hält die jungen Männer auf Abstand. Der Frau am Boden hilft keiner, weil es Mbalu nicht anordnet und weil ihr Mann es nicht für männlich hält.
Kanzi hat Angst. Er will fortlaufen, aber hier gibt es nichts, wohin er laufen könnte. Nur Sand, der mal flach an den Boden gedrückt, mal sacht zu unüberschaubaren Hügeln ansteigt aber bisweilen mit Steinen versetzt das Laufen erschwert.
Schweiß rinnt unaufhörlich an Ashanti herab. Sie hat zum ersten Mal den unbändigen Wunsch, einfach nicht mehr weiterzuleben, das Rad des Lebens anzuhalten. Alles erscheint ihr so sinnlos. Die Mutter ist tot, der Bruder ängstlich, verstört. Jene, die mit ihnen flüchten, sind entweder aggressiv oder apathisch, und die fremden Helfer haben sie völlig im Stich gelassen. Das Schlimmste aber ist, niemand in der Welt kennt die Kinder der Dzemila, niemand weiß, wo sie sich aufhalten und wie es ihnen geht. Niemand reicht ihnen die Hand an mutterstatt.
Was ist nur aus Dzemilas Worten von Frieden und Menschlichkeit geworden? Was ist aus ihnen allen geworden, die den unsäglichen Weg auf sich nehmen, nur um einst würdig leben zu können, wenn sie mit sich selbst doch unwürdig sind? Um sie herum ist noch immer Afrika, aber es kann fremder nicht sein und nicht einsamer und nicht aussichtsloser zwischen all den enttäuschten Menschen. Alles um sie herum erfüllt sie mit lähmendem Schmerz, gnadenlos.
Wie hat sie bisher diesen Kontinent gesehen? Sie sah ihn, wie auch Mutter ihn in Worte fasste: Unsere Heimat ist ein Garten aus wildblühenden Rosenhecken. Aber man kann sie nicht durchdringen, weil die Dornen stärker sind.
Ist das, was sie jetzt erdulden muss, noch immer das geliebte Afrika – die Wiege der Menschheit. Jener Boden, der den Vater aller Schwarzen und den Vater aller Weißen hervorgebracht hat?
Sie schließt ihre Augen und lehnt sich an den rauen Stein. Die Frauen neben ihr verbreiten einen ätzenden, säuerlichen Geruch von altem Schweiß und ungewaschenen Kleidern. Kein Ort in der Nähe, der als Latrine dienen könnte. Kein Opuntienstrauch, der den menschlichen Unrat in sich aufnimmt und dem selbst die Schmeißfliegen fernbleiben.
Am Ende des Tages wird fauliger Gestank an dieser Stelle zurückbleiben, der stechende Geruch von Kot und Urin noch lange im Wüstenwind dünsten.
Das Gefühl unbeschreiblichen Ekels ist in Ashanti. Wie schön war es doch im bescheidenen Häuschen, das der Vater gebaut hat – Stube für Stube. Sie haben zusammen mit Mutter ihr Heim gehegt und gepflegt. Den gestampften, die Boden und die lehmigen Wände mal Kühle, mal Wärme spendeten. Der Brunnen auf dem nahen Feld spendete die meiste Zeit Leben.
Wer wird jetzt von all dem Besitz ergriffen haben? Wer wird sein Hab und Gut abladen, da, wo Vater einst neben der Stube der Kinder eine Stiege anbaute, um noch eine Stube obenauf zu setzen? Eine für Kanzi oder Ashanti ganz alleine. Ein besonderer Luxus. Aber Mutter hat gesagt, es sei üblich in der modernen Welt und es könne nichts der Bindung der Familie schaden, was dem Einzelnen nutzt…
Die Erinnerung an Mutter Dzemila und Vater Dikembe bringt einen bitteren Schmerz in sie. Ihr Schal bedeckt Kanzi, der in ihrem Schoß, in den sie ihn aus Schutz vor den rabiaten Bildern menschlicher Gewalt gedrückt hatte, eingeschlummert ist. Die Sonne glüht senkrecht herab. Den einzigen Schatten spendet jetzt nur noch der kleine Überhang einer Felsformation, unter dem sie noch näher zusammengerückt sind, was den wütenden Mann noch wütender macht. Er schaut sich nach allen Seiten um, ob auch kein Mann einen Zipfel seiner Frau berührt,