Fall eines Engels. Simone Lilly
Übermütig stach er nach oben, nach unten, fing sich kurz vor dem Boden jubelnd wieder auf und zischte wenige Meter in gefährlicher Tiefe geradeaus. Sein muskulöser Körper wand sich nur so um die schattenhaften Häuserecken, er verrenkte sich geradezu, damit er sich zwischen ihnen hindurchschlängeln konnte.
"So will ich immer fliegen." Am liebsten hätte er seine Gedanken lauthals in die Welt hinausgebrüllt, aus Angst aber jemanden zu wecken und sein neu gefundenes Glück damit zu zerstören, hielt er lieber den Mund.
Das Licht wurde heller. Er verfluchte die Zeit, was nahm sie ihnen doch alles. Ihr Leben, glückliche Augenblicke, geliebte Menschen, einfach alles. Schmollend zügelte er seinen Flug, streckte beide Flügel so weit es ging von sich und glitt durch die Luft, nein auf ihr, wurde vom Wind nur so getragen, hatte nur ab und an einen kräftigen Schlag zu tun, um nicht vollständig den Halt zu verlieren. Wohin wollte er? Zuerst fiel ihm nichts ein, doch dann kam es ihm plötzlich in den Sinn. Was war der schönste und friedlichste Ort, den es bei ihnen gab? Das Tor. Des Morgens strahlten die matten Sonnenstrahlen vermutlich nur so durch es hindurch, beleuchteten die Wolken rings umher und sorgten für eine heilige Atmosphäre. Er konnte es kaum erwarten dort anzukommen. Der Weg war nicht mehr weit, um den Rest zu Fuß zu gehen, setzte er sich selbst auf den Boden ab und ging voran. Doch eine unbekannte Kraft zwang ihn dazu, stehen zu bleiben. Gesang? Überrascht spitzte er die Ohren und ging, schlich näher. Es war tatsächlich Musik, eine herrlich leichte Melodie. Die Stimme war hoch, hoch und klar. Klar und unschuldig.
Genießend schloss er die Augen und ging näher. Diesmal nicht darum bedacht unerkannt zu bleiben. Was konnte es ihm schaden entdeckt zu werden.
Ein Mädchen ging fröhlich auf und ab. Es hatte lange blonde Haare, die ihr in luftigen Strähnen um die Schulter wehten. Wie alle Engel es taten, trug auch sie eine knappe Hose, sie reichte ihr lediglich bis zu der Mitte ihrer Oberschenkel, um die Brust hatte sie ein weißes Band gewickelt. Raphal war es nicht möglich ihr Gesicht zu sehen. Nur ihre Stimme, die konnte er hören. Langsam ging er näher, was tat sie um diese Uhrzeit hier draußen? Immer und immer wieder huschte sie von einem Ende zum anderen, beugte sich hinunter und blickte auf die Erde. Was suchte sie?
„Was suchst du?“, fragte er ganz unverblümt und verschränkte die Arme, dass er ihr sehr nahe gekommen war, hielt er nicht für schlimm. Ihr Lied verstummte, das Mädchen erschrak und wollte in die Luft fahren, doch er hielt sie mit einer raschen Handbewegung fest. Die Berührung löste etwas in ihm. Ein befremdendes Gefühl, überall in ihm begann es zu brodeln, er begann sich ungewohnt leicht und unbeschwert zu fühlen.
„Wer bist du?“, fragte das Mädchen anstatt zu antworten und machte sich vorsichtig los.
„Raphal, und du?“
Ihre Haut war von kleinen Punkten gesprenkelt, sie waren auf ihrer Nase und ihren Wangen. Ihre Augen strahlten mit der aufgehenden Sonne um die Wette, in einem solch tiefen Blau, dass Raphal beim besten Willen zwischen ihnen und dem Himmel keinen Unterschied erkennen konnte. „Es … tut mir leid, dass ich mich nicht zuerst vorgestellt habe, ich bin Raphal“, entschuldigte er sich dürftig, merkte aber sehrwohl, dass er im Begriff war, sich in den Tiefen ihrer Augen zu verlieren. Nicht einmal der Schlag ihrer Lider konnte seinen Blick aus ihnen verbannen. Sie schien es wohl zu bemerken. „Ich bin Merlina“, gab sie zurück und musterte ihn von oben bis unten. Raphal lies nicht locker, das obwohl er nun eine weitaus bessere Beschäftigung gefunden hatte, als ihr dämliche Fragen zu stellen.
„Was suchst du?“
Merlina lachte und entblöste eine Reihe schneeweißer, gerader Zähne. „Ich war noch nie hier draußen und wollte sehen, ob man von hier auf die Menschen blicken kann.“ Absurd!
„Das ist möglich“, sagte er stattdessen, nahm ihre Hand und führte sie zur Mauer, dort umschlang er frech ihre Hüften und flog mit ihr den kurzen Weg hinauf. Beide sahen hinunter. Doch es war zu dunkel und zu bewölkt, um auch nur das Geringste sehen zu können. „D … u warst noch nie hier?“ Merlina schüttelte den Kopf, als beide sich auf die harte Mauer setzten, die Füße ließen sie hinunter baumeln. „Meine Mutter erlaubt es mir nicht.“
Noch immer sah er verzaubert zu ihr. „Aus welchem Grund verbietet sie es?“
„Meine Schwester musste hierhergehen, sie war krank und sie musste gehen.“, mitten im Satz brach sie ab, ihre Stimme versagte, ihre wunderschöne Stimme. „… ich hatte gehofft sie hier sehen zu können, zu sehen was aus ihr geworden ist.“ „Wann war es?“
„Vor zehn Jahren.“
Keiner sagte mehr etwas. Die Sonne stach ihnen ungebrochen ins Gesicht. Raphal musste geblendet blinzeln, Merlina warf ihre Haare ins Gesicht und schien gänzlich hinter ihnen zu verschwinden, als wäre sie hinter einem dicken Vorhang. Fast schon bereute er es, denn so konnte er ihr engelsgleiches Gesicht nicht mehr sehen. „Du hast dich heute aus dem Haus geschlichen?“
Sie nickte, doch er konnte ihre erröteten Wangen beinahe fühlen.
„Das braucht dir nicht peinlich zu sein, auch ich habe mich aus meinem Zimmer geschlichen.“
„Wieso hast du es getan?“
„Ach, es ist nichts Schlimmes passiert, ich wollte aber einfach nur allein sein.“
Ein Ruck durchzuckte ihren Körper. „Entschuldige, nun bin ich hier.“
Ohne Aufforderung aber auch ohne von ihr abgewiesen zu werden, griff er nach ihrer Hand und umschloss sie mit seinen starken Fingern. „Das braucht es nicht. Ich könnte mir keine bessere Gesellschaft vorstellen.“ Sie schmunzelte angetan. Miteinander vertraut als wären sie alte Freunde saßen sie auf dem harten Stein, sahen sich einige Male verstohlen an, blinzelten, senkten den Blick und hoben ihn gen Himmel, auf das gewaltige Tor vor ihnen. Noch immer hielt er ihre Hand, wollte sie nicht loslassen. Genoss es zu fühlen, wie sich ihre zarten Finger ab und an bewegten, sich lockerten und dann wieder verkrampften, sich an seine Haut schmiegten. Sie war herrlich warm. Das Leben in der Stadt erwachte, das konnten beide hören. Auch waren schon die ersten kräftigen Flügelschläge zu vernehmen. Sicherlich hatten seine Eltern sein Verschwinden bemerkt.
Als beide so vor sich hin starrten, begann ein seltsames Gefühl in Raphal zu reifen. Warum eigentlich waren sie alle gleich? Glichen dem anderen wie dessen Zwilling? Natürlich gab es größere, dickere, mit langen Haaren, mit kurzen, mit glatten Haaren oder Locken. Genau konnte er es nicht sagen, doch irgendetwas war an Merlina was ihn faszinierte. Womöglich war es der bloße Umstand dass sie die Einzige war in seinem jungen Leben, mit der er je gesprochen hatte und die ihm allein ihre Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Abheben, genau das musste er. Nicht vom Boden, sondern aus der Menge an gleichaussehenden Engeln. Verlegen griff er sich an die Schulter und drehte sich zu ihr hinüber.
Wortlos wurde ihr Gesicht von der Sonne beschienen, ihre Gesichtszüge wurden immer milder und weicher je länger sie die vorrüberziehenden Wolken beobachtete.
Ihr größter Wunsch war es gewesen, einmal auf die Erde gehen zu können, zu sehen wie die Menschen dort lebten. Sich abheben? Ja das konnte er indem ihm die entscheidende Idee in den Sinn kam: er würde es ihr ermöglichen.
„Du?“, sagte er vorsichtig.
Sofort hafteten ihre durchbohrenden Augen auf ihm. „Ja?“
„Möchtest du auf die Erde? Jetzt?“
„Jetzt?“, ihre Frage klang nicht umsonst erschrocken. Fast keiner traute sich auf die Erde, höchstens die Wächter. Ansonsten wusste ein jeder, dass man nur wenig Zeit hatte, bis das Tor sich wieder schloss. Nicht umsonst war es Brauch, dass selbst die Wächter immer zu zweit loszogen. Während der eine unten an Land seine Arbeit verrichtete, wartete der andere oben. Verpasste der unten gebliebene den Moment rechtzeitig wieder aufzusteigen, so konnte der Obere das Tor mit Leichtigkeit wieder öffnen und ihn hereinlassen. Raphal hatte wenig Angst. Wären sie nur kurz unten und würden nicht viel Zeit verstreichen lassen, würde ihnen nichts geschehen.
Um seinen Verstand besorgt neigte sie den Kopf. „Meinst du das ernst?“
Er nickte rasch,