Cricketfield Road. Boris Born

Cricketfield Road - Boris Born


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ich mit jedem Schritt Löcher in den morschen Parkettfußboden. Die Sonne durchflutet die Wohnung. Ich blinzele. Der Mann ist viel zu groß für die kleinen Räume. Ich breche wieder zwei Löcher in das Parkett und bleibe nun lieber stehen. Der Mann stellt meine Sachen hin und setzt sich in einen mintgrün gestrichenen Korbflechtsessel. Seine Zähne bürsten ein Unterlippenbärtchen.

      An den Füßen des Mannes sind braune, spitze Schuhe, die er nach vorne streckt.

      Die Frau kommt zu mir, umarmt und küsst mich auf die Wangen.

      „Willkommen in London, Lena“, sagt sie und strahlt. Aus einer Kompaktstereoanlage kommt argentinische Tangomusik. Das gelbgrüne Hemd des Mannes beißt sich mit dem mintgrünen Sessel. Mit seiner kleinkarierten Hose auch. Die Fenster sind alle hochgeschoben. Autolärm. Kreischende Kinder. In der Mitte des Zimmers steht ein Glastisch. An einer Ecke ist ein Stück Glas abgeplatzt. Auf dem Glastisch steht eine gelbgrüne Vase. Auf der Wasseroberfläche schwimmen pinkrote Glockenblüten, aber nur die Blüten, ohne Stiele. Das Wasser riecht verfault. Ich stehe immer noch bewegungslos da. Ich lächele verlegen. Die kleine metallene Gießkanne macht einen Wasserrand auf das Parkett. Die Frau holt Gläser voll mit Eiswürfeln. Ihre Augen funkeln schwarz und tief. Sie hat schwarze, lange Haare. Ihr pastellblaues Kleid beißt sich mit der Farbe des Korbsessels und mit der des Hemdes. Sie beugt sich zu ihm runter und küsst ihn etwas. Dann krault sie sein Bärtchen. Ihre goldbraunen Füße tragen Birkenstocksandalen. Sie holt eine Flasche mit goldgelbem Orangenwein. Die Eiswürfel knacken entsetzt in der klebrigen Flüssigkeit. Der Geruch von Orangenaroma durchströmt den Raum. Ich ziehe die Schuhe aus, lasse sie in den Löchern stecken.

      „Schön das du jetzt hier bist“, sagt die Frau auf Deutsch mit einem lustigen Akzent.

      „Prost“, erwidere ich und wir nippen an den schweren Gläsern. Der Wein ist quietschig süß.

      In der Küche fängt ein Kessel an zu heulen und der Mann steht auf, um Expressokaffee zu kochen. Es riecht nach ausströmendem Gas.

      Barfuß laufe ich herum. Das Zimmer zum Garten raus ist in grellem Orange gestrichen, auch an der Decke. Durch die Sonne glüht der Raum wie ein Kamin. Auf einer Fensterbank wachsen Sonnenblumen. Die meisten Blüten hat der Wind abgeknickt. Viele kleine Bücher stehen unordentlich auf einem verzinkten Regal.

      Die Frau kommt zu mir und zeigt mir Hochzeitsfotos. Ich bin überrascht, dass sie verheiratet sind.

      Auf dem Foto sind nur die beiden zu sehen. Ein verschnörkeltes, weißes Eisendach - das Standesamt. Er trägt ein zu kleines Jackett und der Bauch hängt etwas über die Hose. Sie hat ein schwarzweißes Kleid an.

      „Die Town Hall ist auf der Rosebery Avenue in Islington“, sagt sie, „es ist nun fast vier Jahre her. Es ist unser großes Geheimnis, wir haben es bisher noch nie jemandem erzählt.“ Sie zeigt mir eine Heiratsurkunde. Ich lese ihre Namen: Monserrat und Kurt.

      Wieder wach. Es ist schon dunkel. 6 Uhr. Druck. Dumpf. Schweiß. Die Lichter der Autos tanzen an der rosa Wand. Gebündelte Geschwindigkeiten. Lichtfluten. Lärmfluten.

      Gehupe. Komisches Fiepen – der Schwarzweißfernseher! Na, komm – gib nicht auf! „Police Kamera Action“ fängt an: Beinahezusammenstöße, eine Frau mit einem Rollstuhl auf der Autobahn und reale Verfolgungsjagden. Dann: „Builders from Hell“. Pfusch auf dem Bau und was für Unfälle passieren können. Alles Unsinn. Das Licht anknipsen? Nein. Alles Unsinn.

      „Pete, laß uns ein Bier trinken gehen“, rufe ich die Treppe hinauf.

      „Ist gut, ich komme gleich runter.“

      Wir trotten die Cricketfield Road entlang. Die Reifenhandlung hat sonntags zu. Das Werkzeug- und Tapetengeschäft, die Post mit nur zwei Schaltern, die Bäckerei mit den schlechtesten Brötchen der Welt haben auch zu.

      Der Friseur, der Makler mit einem Fotokopierservice für vier Pence die Kopie, der karibische Imbiss, der kurdische Schlachter, der Gemüse- und Lebensmittelladen sind offen. Wir grüßen ein paar Leute. Vier Häuser weiter ist eine Autowerkstatt. Drei Häuser daneben der Pub ‘Cricketer’. Die Tür geht schwer. Lärmende Reggaemusik. Drei Jamaikaner spielen Billard.

      Im Fernseher läuft ohne Ton: „Animals in Uniform“ - Polizisten dressieren Hunde für den Einsatz.

      Der jamaikanische Wirt zapft uns ein Lagerbier. Ein alter Mann sitzt am Tresen und liest Zeitung.

      Die deutsche Ehefrau des Wirts stellt das Bier auf ein Handtuch. Ohne Schaum und lauwarm.

      „Wie geht’s“, fragt sie mich auf deutsch.

      „Ach gut“, antworte ich, „viel Arbeit, wie immer.“

      „Was machst du noch mal?“ Sie hat es vergessen!

      „Ich gebe Deutschstunden.“

      „Das ist doch super. Ich muss jetzt weitermachen.“ Sie hat Tränen in den Augen. Ihr Mann trinkt zu viel.

      Wir gehen mit dem Bier an einen Tisch. Wir haben ganz vergessen, dass sonntags Striptease ist.

      Eine blonde Frau tritt aus einem Hinterzimmer und tanzt in einem pinkfarbenen Schürzchen zu einem Lied von Madonna. Am Schluss räkelt sie sich auf dem Billardtisch. Sie spielt mit den Kugeln an sich herum. Die schwarzen Männer, deren Spielkonstellation zerstört ist, sind genervt. Sie telefonieren mit ihrem Handy, bis es vorbei ist.

      Im Fernseher läuft tonlos „Hollyoaks“, eine Teenieseifenoper.

      Mehr Discomusik. Pete springt auf. Er zieht die Trainingsjacke aus. Er tanzt und wirft die Arme in die Luft. Seine Trainingshose und seine Turnschuhe erinnern an den Geruch in Umkleidekabinen.

      Die nächste Stripperin trägt einen Krankenschwesterkittel und weiße Stiefel, die bis hinauf zu den Oberschenkeln gehen. Die Deutsche schlurft mit einem Glas zu jedem Gast und kassiert ein Pfund fürs Ausziehen.

      Ich klingele bei einer Frau mit einem großen Hund. Der Hund springt mich an und beißt mich. Ich verbinde mein Bein und frage, ob ich das Kind füttern darf. Als ich den Löffel zum Mund führe, ist es verhungert. Ich bin zu langsam gewesen.

      Die Frau stößt mich die Kellertreppe hinunter und schließt mich in der Dunkelheit ein. Ich ertaste plastikfurnierte Spanplattenmöbel und Automaten für Strom und Gas, in die man 1 Pfund Stücke werfen muss. Ich habe leider kein Geld. Nach einer Woche schiebt die Frau einen Umschlag durch die Tür. Im Licht des letzten Streichholzes, erkenne ich eine Rechnung von 80 Pfund. Es ist für eine Woche Miete.

      Die Tür ist nun nicht mehr verschlossen. Die Frau nennt mich: „Lodger“. Da ich das Licht nicht mehr gewohnt bin, stolpere ich, als ich in den Garten trete. Im Liegen esse ich einige Brennesseln. Der Hund springt mir ins Genick. Dann rennt er davon. Die Frau kommt in den Garten und gibt mir noch mehr Rechnungen: vom Finanzamt, für die Betriebskosten, für die Hypothek auf dem Haus, für gemietete Haushaltsgeräte, für unterlassene Dienstleistungen wie: kochen, waschen, bügeln und den Hund füttern.

      Nach ein paar Monaten gelingt es mir, die Frau mit überdüngten Karotten zu vergiften. Sie stirbt fast. Ich vergrabe sie noch lebendig im Garten. Hinterher bin ich müde und ihr Ehemann kocht mir einen Tee.

      Am nächsten Tag kaufe mir einen mintgrünen Korbsessel. Den stelle ich in den dunklen Keller und reibe meinen Rücken an der Lehne.

      Ich stehe vorm Spiegel und sehe hinein. Jetzt gerade habe ich gedacht, dass ich davor stehe und hinein sehe. Für einen Augenblick war ich doppelt, für einen Bruchteil einer Sekunde. Das war nicht das erste Mal. Es ist schwer gleichzeitig zu denken und zu sein. Bin ich es, oder sehe ich, was ‘ich’ sein soll? Sehe ich meine Ohren, die Stirn und die Augen? Oder sehe ich spiegelverkehrte Flächen, Licht und Farbe? Der Spiegel weicht alles auf.

      Ich werde darauf achten, nicht gut auszusehen. Nicht aussehen, das wäre phantastisch. Gesehen werden, aber nicht zu viel. Ideal wären flirrende Konturen.

      Was machen Menschen mittags? Was passiert?

      Ein


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