Der Sommer der Vergessenen. René Grandjean

Der Sommer der Vergessenen - René Grandjean


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Sie war nackt und hatte langes, wallendes Haar. Inmitten von Bäumen und Büschen streckte sie beschwörend die Arme zum Himmel. Um sie herum standen Geschöpfe mit schwarzem und weißem Fell. Sie kamen Rolo bekannt vor. Gerade bis zur Hüfte reichten ihr die kleinen Kerle. Ihre langen Arme hatten sie wie die Frau nach oben gereckt. Ihre Blicke jedoch ruhten auf ihr. Der Zeichner hatte einige Blätter und Gehölze so geschickt angeordnet, dass sie auf den zweiten Blick Gesichter formten. Manche freundlich, andere grimmig, mit offenen und geschlossenen Mündern. Rolo staunte über die Details. Eine der affenähnlichen Kreaturen schaute ihn an.

      „Nanu!“

      „Was ist los?“, fragte sein Vater, der an die Spüle gelehnt seinen Kaffee trank.

      „Ach nichts. Ich hätte nur schwören können, dass dieser kleine Kerl hier …“.

      In diesem Moment pochte es laut an der Haustür. Igel sprang auf und versteckte sich unter der Anrichte. Paps Kaffeetasse fiel zu Boden und zersprang.

      „Jetzt hab ich mich aber erschrocken. Wenn das wieder die Gottlieb ist.“ Und mit mürrischer Entschlossenheit eilte er aus der Küche.

      Rolo schaute ihm, halb verborgen hinter dem Türrahmen, hinterher.

      Paps öffnete die Haustür zögerlich. Eine Brise fuhr ihm durchs Haar. Auf der Fußmatte lag ein Brief. Er hob ihn auf. „An die Familie Blutgut“, las er und reichte ihn Rolo.

      Der braune Umschlag war umrahmt mit zarten, stilisierten Efeuranken in grüner Farbe. Der Buchstabe B in Blutgut war mit allerlei Schnörkelei verziert, wie man es sonst nur in alten Büchern und Schriften sah. Rolo staunte. Sein Vater ging den Weg bis zum Gartentor. Es stand offen. Aber auf der Straße sah er nur drei kleine Mädchen mit Springseilen. Er warf das Tor ins Schloss und ging zurück zum Haus.

      Einen Moment mussten sie suchen, bis sich ein sauberes Messer fand, mit dem sie den Umschlag öffnen konnten. Paps zog ein vergilbtes Blatt Papier aus dem Umschlag. Wie Pergament sah es aus. Er entfaltete es und begann leise zu lesen. Rolo sah ihn erwartungsvoll an. „Nun lies doch vor!“

      „Lieber Grellon, lieber Roland,

      Viele Winter sind durch das Land gezogen, seit sich unsere Wege ein letztes Mal kreuzten. Und es waren Zeiten des Kummers, da ich zuletzt die Gelegenheit hatte, das Wort an Euch zu richten. Ich erinnere mich gut, dass die Geschehnisse dieser düsteren Tage Dich, lieber Grellon, mit Kummer und Trauer erfüllten. Und auch erinnere ich mich gut an Dich, lieber Roland, ein kleiner Hoffnungsschimmer in den Armen Deines Vaters. Oft wart Ihr in meinen Gedanken, und ich bin mir sicher, dass Ihr gemeinsam den Weg zurück ins Licht gefunden habt. Doch nun, wo alte Wunden verheilt und das Dunkel verzogen, regt sich die Vergangenheit. Es gibt Neuigkeiten über Vivianne, meine Nichte, Eure Frau und Mutter. Nachrichten, die uns ermöglichen, die tragischen Ereignisse der Vergangenheit im neuen Licht zu betrachten. Es würde den Rahmen dieses Briefes sprengen, und ich würde ein Gespräch Auge in Auge begrüßen. Zumal es wundervoll wäre, Euch wiederzusehen. Ich hoffe für uns alle, und besonders für Dich, lieber Roland, dass sich alles zum Guten wenden wird. Ich möchte Euch beide bitten, mich alsbald als möglich in meinem Haus aufzusuchen. Ihr seid mir jederzeit willkommen.

      Gute Reise.

      Kinsella Farrah, Neunseen“

      Paps legte den Brief auf den Tisch.

      „Wer ist Kinsella Farrah“, fragte Rolo.

      Paps seufzte. „Kinsella Farrah ist die Tante deiner Mutter. Ich habe sie zuletzt gesehen“, er grübelte, „kurz nach dem Tod deiner Mutter.“

      Rolo nickte. Paps strich sich mit dem Handrücken durch den Bart. „Was denkst du, mein Sohn?“

      Rolo setzte eine entschlossene Miene auf. „Ich denke, wir sollten packen!“

      Kapitel 2

      Der Helle

      In einem schattigen Teil des Waldes umkreiste eine dunkle Gestalt eiligen Schrittes einen dampfenden Krater. Sie gestikulierte wild mit den Armen und plapperte vor sich hin, wie in ein Gespräch vertieft. Doch außer ihr war niemand zu sehen. Plötzlich blieb sie stehen, warf den Kopf in den Nacken und rief: „Meister, ich bitte dich! Er ist so ein Spielverderber!“

      Die Antwort folgte prompt. Sie kam aus dem welken Laub, aus den hohen Baumwipfeln, vielleicht sogar aus der frostigen Erde selbst. Und eine Stimme, so tief, dass die Vögel ehrfürchtig das Singen vergaßen, hallte durch den Wald. „Das besprachen wir bereits, Driftwood. Ihr wart Gefährten, und ihr werdet es wieder sein.“

      Driftwood zuckte unmerklich zusammen. Wie alle Nachtalben war er nicht sehr groß. So um die 1,30 Meter. Sein Körper war mit dem schwärzesten aller Felle bedeckt. Das war, stets gut gepflegt, nur am Bauch etwas weniger dunkel. Seine dünnen Arme baumelten an ihm herab wie gekochte Spaghetti. Bis zu den Waden hingen sie, und dabei waren seine Beine nicht weniger lang. Das Gesicht, eine vorstehende Schnauze, war ohne sichtbare Nase und mit kürzerem Fell bewachsen. Eine Mähne rahmte es ein wie Kronblätter eine finstere Blüte. Seine Lippen waren so schmal, dass der Mund unsichtbar blieb, hielt er ihn geschlossen. Das passiert jedoch nur, wenn er schlecht gelaunt war. Das allerdings war nicht so selten. Dann wimmerte er, dass seine rostige Stimme jedem ins Mark fuhr. Seine Ohren ähnelten Mäuseohren und saßen schräg hinten am Kopf. Der thronte ohne Hals zwischen schmalen Schultern, weshalb er recht groß wirkte. Das machte ihm das Tragen von Sonnenbrillen nahezu unmöglich. Es wäre aber auch zu schade gewesen, hätte er seine runden Rehaugen hinter dunklen Gläsern verborgen. Ihr zartes Braun verlieh ihm etwas Sanftes. Driftwood blinzelte nie - ein Ass im Ärmel bei jedem Glotzduell! Seinen buschigen Schwanz trug er stets mit Würde und Bedacht. Setzte sich Driftwood, rollte er ihn ordentlich ein oder trug ihn über dem Unterarm wie ein Kellner sein Gläsertuch. Sein voller Name lautete übrigens Driftwood D. Flog. Aber wofür das D. stand, das verriet er niemandem. Und wer zu neugierig nachfragte, der machte die Bekanntschaft der vierfingrigen Pfoten.

      „Ja, natürlich waren wir das“, rief Driftwood. „Aber seht Ihr denn nicht, wo es uns hinbrachte? Hunderte Jahre kalter Schlaf!“

      „Und du weißt, dass es ebenso wenig seine Schuld war wie deine. Der Wind hatte sich gedreht, gegen uns. So ist der Lauf der Welt. Er ist dein Tag, du seine Nacht. Ihr braucht einander.“

      „Gebt mir ein Heer, Meister. Eine berittene Hundertschaft unter meinem Kommando wird das Rätsel in null Komma Nix lösen. Habt Euch doch nicht so!“

      „Das war nie unser Weg. Und unser Weg soll es nicht werden. Willst du dich so der Welt präsentieren, als bewaffnete Horde? Das wäre mir ein triumphales Ende, wo ein Anfang sein sollte. Wir brauchen keine Waffen, wir brauchen Verstand.“

      Driftwood schaute in die Baumkronen und breitete beschwörend die Arme aus.

      „Aber Meister, das Rätsel. Wir müssen das Eisen schmieden. Jetzt ist es heiß!“

      „Und es wird noch heißer, mein pelziger Freund. Jetzt ist der Wind unser Verbündeter. Er bläht unsere Segel, er heizt unsere Esse, er weht unter unseren Flügeln.“

      Kopfschüttelnd lief Driftwood zwischen den Bäumen umher. „Hab Geduld“, wisperte das Laub.

      „Geduld, Geduld“, wiederholte Driftwood. „Ich spüre noch das Gewürm und die Asseln in meinem Pelz. In meinem wundervollen Pelz.“ Er strich sich nervös über den Bauch, wie um Käfer zu verjagen.

      Eine Eichel an einem nahen Baum flüsterte: „Und wundervoll wird es in Kürze wieder sein, mein eitler Freund. Erinnere dich an das Ende. Erinnere dich daran, wie es war, vergessen zu sein. Mit letzter Kraft schenkte ich euch einen tiefen Schlaf, der euch die Zeiten überdauern ließ. Und für euch beide entschied ich mich, weil ihr mir die treuesten aller Diener wart. Lass es mich nicht bereuen. Schau zurück, erinnere dich an seine Weisheit, seinen Mut - und vor allem, an seine Treue.“

      Driftwood hielt inne. Betreten schaute er zu Boden. „Und ich vermisse ihn. Aber!“, er hob mahnend die Pfote, „erinnert Ihr Euch auch an seine Predigten und sein ewiges


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