Der Sommer der Vergessenen. René Grandjean
so ein entlaufender Irrer.“
Rolo setzte sich auf, um besser sehen zu können. Warum sagte der Graue nichts? Er rührte sich nicht einmal.
„Ich hab eine Idee. Wissen Sie was? Stecken Sie sich doch rohe Steaks in die Hose und springen in ein Haifischbecken. Na?“ Paps gestikulierte wild mit den Armen. Reisen waren nichts für ihn. Und dann noch so was. Er drehte durch. „Oder Sie hängen sich neun Tage kopfüber an einen Baum? Wäre das was?“
„Das hab ich schon getan“, erwiderte der Graue und hob sein Haupt.
Rolos Vater tat einen Schritt zurück. Der Alte hatte eine kaum vorstellbar dicke Knollennase, die einen Großteil des runzeligen Gesichts füllte. Der Bart reichte ihm bis auf die Brust. Dazu trug er eine Augenklappe. Sein Auge war strahlend blau.
Rolo fluchte, stieg zögerlich aus und näherte sich. Sein Vater stand starr wie ein Reh im Scheinwerferlicht. Derartige Konflikte waren nichts für ihn. Der Graue war mehr als zwei Meter groß, und sein Stab war noch länger. Und dieser lauernde Blick. Es ging etwas Bedrohliches von ihm aus. Wasser tropfte von der Decke und verschwand im Nebel zu ihren Füßen. Sonst rührte sich nichts.
„Du!“, sagte der Graue plötzlich und stupste Paps mit der Spitze seines Stockes an. Rolo hatte die Bewegung überhaupt nicht gesehen, so schnell war sie gewesen. „Du bist ein lustiger Kerl“, entschied der Graue. „Verrate mir deinen Namen.“
Rolo wunderte sich. Es war die Stimme eines jungen Mannes, kräftig und ungebrochen. Und der Ton war nicht unfreundlich. Sein Vater schielte überrascht auf den Stock, der seine Brust berührte.
„Blutgut, Grellon Blutgut“, sagte er steif. „Und das hier ist mein Sohn Roland“.
Rolo sah, dass der Knauf des Stocks ein fein geschnitzter Krähenkopf war. Das gefiel ihm. Er erwiderte den Blick des Grauen und nickte wortlos zum Gruß, wobei er versuchte, möglichst verschlagen auszusehen.
„Man nennt mich Solomon“, sagte der Graue und stützte den Stock wieder vor sich auf die Erde. „Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich euch erschreckt habe. Wollte nur nach dem Rechten sehen, damit hier niemand im Nebel vor ein Auto läuft. Versteht ihr?“ Er schnitt eine Grimasse und lachte schallend.
Zunächst war Rolo etwas besorgt, ob dieser Mann noch ganz richtig im Kopf war, und er warf seinem Vater einen besorgten Blick zu. Aber das Lachen war so herzlich, das es bald ansteckend wirkte. So löste sich auch die gespannte Atmosphäre. Das Lachen verebbte zu einem Glucksen.
Solomon rieb sich eine Träne aus dem Auge. „Ihr seid so lustig“, schnaubte er. „Nicht zu glauben. Wisst ihr, ich bin der Schäfer hier im Tal. Mein Name ist … ach, hab ich ja schon gesagt. Ich vermisse ein Lamm. Hat sich wohl im Nebel verlaufen, das arme Ding. Ich glaube, ein Fuchs hat es erschreckt. Darf gar nicht dran denken. Das arme Ding.“ Er blickte zu Boden und ließ die breiten Schultern hängen. „Papperlapapp! Was führt euch ins wundervolle Nachtschattental?“
Paps ergriff das Wort. „Familienangelegenheiten. Eine Verwandte lebt hier. Vielleicht kennen Sie sie? Kinsella Farrah?“
„Na lüg ich denn? Natürlich kenne ich sie. Jeder im Tal kennt sie. Und ihren Gefährten, Belenus Brock. Ein guter Mann, der olle Belenus. Und du, mein junger Freund, dein Vater hat dich bestimmt gezwungen, deine langweilige Verwandtschaft in der Einöde zu besuchen?“ Er lächelte.
„Eigentlich nicht. Ich bin gerne draußen“, antwortete Rolo ernst. Er fühlte sich ein bisschen beleidigt.
„Ja, mein Sohn ist ein richtiger Waldläufer“, ergänzte Paps.
„Ist das so? Na, da haben wir ja ein seltenes Exemplar. Freut mich, freut mich wirklich.“
„Sagen Sie, Solomon“, fragte Paps, „ist es noch weit bis ins Tal? Wissen Sie, dieser neblige Tunnel hier ist schwer zu fahren.“
„Nein, weiß ich nicht. Weit? Nein, nicht mehr weit.“
„Sie haben einen schönen Stock da. Besonders der geschnitzte Krähenkopf ist toll“, warf Rolo ein.
„Findest du?“ Solomon betrachtete seinen Stock, als sehe er ihn zum ersten Mal. „Ja, fürwahr. Der ist wirklich schön.“
Rolo glaubte, so etwas wie Überraschung in Solomons Gesicht zu erkennen. Der graue Mann beugte sich hinunter und kam mit seiner Kartoffelnase ganz nah an Rolos Gesicht.
„Tatsächlich? Ist das so? Du bist ein aufmerksamer Kerl. Ein guter Beobachter, fürwahr, das bist du. Das liegt an deinen wissenden Augen. Glaub mir, dafür hab ich ein Auge.“ Solomon gluckste. „Ha, ein Auge. Na, egal. Ich glaube, mein Junge, du trägst eine alte Seele. Ja, das wird es sein. Aber keine Sorge, das ist gut. Wirklich gut, vor allem für dich.“
Eine alte Seele. Rolo verstand nicht, was Solomon meinte. Aber er fand, es klang gut. Noch etwas war seltsam. Gerade eben wirkte Solomon noch so gewaltig. Jetzt erschien er Rolo kaum größer als sein Vater.
„Nun, denn“, sagte Paps, „ich hoffe, dass Sie Ihr Lamm finden.“
„Lamm? Oh, ja, mein Lamm. Na, ich nun wieder. Stehe hier rum und träume wie eine alte Esche. Nun, wenn ihr es nicht gesehen habt, muss es noch im Tal sein. Gibt ja nur den Weg hier. Hoffe, das arme Ding hat sich nicht in die Berge geschlagen. Nicht dran zu denken. Und dann noch der Fuchs.“
„Sagen Sie, Herr Solomon“, meldete sich Rolo, „wer hütet denn Ihre Herde, wenn Sie hier sind?“ Rolo fand, das war eine gute Frage. Er kam sich sehr schlau vor.
„Herde?“, stutzte Solomon. „Ach, die Herde. Nun ja, die hütet sich selbst. Ungemein unterschätzte Tiere, diese Schafe. Wirklich.“ Plötzlich erstarrte er. „Hört ihr das?“ Er blickte über die Wiese zum Waldrand.
Auch Rolo schaute, sah aber nichts außer Wildblumen. Er hörte auch nichts Ungewöhnliches.
Solomon ließ seinen Blick schweifen. „Driftwood“, flüsterte er. „So hat es schon begonnen. Auf bald ihr Blutguts, es hat mich gefreut. Wirklich gefreut hat es mich.“ Sprach es und stapfte, ohne sie anzusehen, ins hohe Gras hinaus, wobei er eine Spur von Nebel hinter sich her zog. Mit eiligen Schritten verschwand er zwischen den Bäumen.
„Driftwood?“, wunderte sich Paps. „Seltsamer Name für ein Lamm.“ Er schüttelte den Kopf. „Was für ein Irrer“.
Rolo schaute Solomon hinterher. „Irre.“
Der Nebel in der halben Höhle war nicht mehr so dicht und sie kamen gut voran. Rolo schaute sich jetzt noch aufmerksamer um. Wo die Bäume nicht so hoch gewachsen waren, konnte er einen Blick auf die Berge am Horizont werfen. Er lächelte, lehnte sich zurück und freute sich auf den Sommer. Endlich wurde es heller. Die halbe Höhle war zu Ende. Paps stoppte den Wagen. Die beiden Blutguts ließen sich mit einem Seufzer in ihre Sitze fallen.
„Abgefahren“, meinte Rolo.
„Nein, jetzt nicht“, erwiderte sein Vater, „erstmal die Beine vertreten.“
Rolo lachte. Sie stiegen aus. Es raschelte in den Büschen, wo sich anscheinend einige Bewohner des Waldes erschrocken davon machten. Rolo blickte zurück zum Ende ihrer Passage unter dem Fels. Erst jetzt erahnte er, unter welch einem gewaltigen Bergmassiv sie unterwegs gewesen waren. Das war kein einzelner Hügel oder Berg. Es war eine in sich geschlossene Gebirgskette. Wie gewaltig mussten die Bäume dort oben sein, dass sie so tiefe Wurzeln schlugen, die bis hinab zur Straße reichten? Sein Vater trat von hinten an ihn heran. „Beeindruckend, oder?“
Rolo nickte.
„Neunseen liegt in einem Gebirgskessel. Das Nachtschattental geht einmal drum herum wie ein Atoll. Unterbrochen wird das Gebirge nur hier, wo die Straße läuft. Und durch die Wiesen mit dem angrenzenden Wald. Allerdings ist dieser Weg kaum begehbar. Mündet dahinten in eine tiefe Schlucht. Und jenseits der Bäume geht der Fels weiter.“
„Wie geil ist das denn!“, staunte Rolo.
Sein Vater überging die Bemerkung und fuhr fort. „Fast überall