Der exzentrische Maestro Carl. Cristina Zehrfeld
55. Die Carl’sche Philosophie des Absurden
56. Die Negation der negierenden Negation
57. Wie Maestro Carl meinen astrologischen Horizont erweiterte
59. Der Tag, an dem ich nicht mit zum Konzert gefahren bin
60. Der undankbarste Job der Welt
62. Wie ich mich endgültig mit Maestro Carl überworfen habe
63. „Der Name ist ein Stück des Seins und der Seele.“ (Thomas Mann)
64. Maestro Carl ist tot, es lebe der Maestro!
1. Begegnungen mit Maestro Carl
Maestro Carl ist ein Genie. Er ist der beste Organist, den die Welt je gesehen hat, allerdings auch der verrückteste. Deshalb ist es in Kreisen des musikalischen Establishments strengstens verboten, den echten Namen von Maestro Carl auch nur zu erwähnen. Zuwiderhandlungen werden soweit ich weiß mit dem Tode bestraft. Wer den Namen nicht vorsätzlich, sondern nur versehentlich in den Mund genommen hat, kommt unter Umständen mit einer abgeschnittenen Zunge davon. Das hat mir jedenfalls ein Herr ohne Zunge auf einen Zettel geschrieben.
Mein erstes Gespräch mit Maestro Carl führte ich in der Pause eines Konzertes in der D.-er Kirche. Das Gespräch dauerte fünfundzwanzig Minuten und damit länger als die ursprünglich auf zehn Minuten angesetzte Pause. Ich war in dieser Zeit die allerbeste Freundin des Maestros und seine uneingeschränkte Vertrauensperson. Nach diesen fünfundzwanzig Minuten kannte ich den Maestro besser als meine Großmutter. Ich wusste mehr Details über seine Gesundheit als sein Arzt. Ich kannte seine finanziellen Verhältnisse besser als meine eigenen. Der Maestro hatte mir sein Vertrauen geschenkt. Er hatte seine Sorgen und Nöte mit mir geteilt. Nur ein verschämter Blick in meinen Ausweis hat mich davon überzeugt: Nein, wir sind noch keine vierzig Jahre miteinander verheiratet.
Einen Blick auf die Uhr musste ich nicht werfen. Das taten ja bereits die Leute um uns herum, die mich inzwischen zunehmend verärgert musterten. Ich wusste also nur zu gut, dass alle auf Maestro Carl und mich starrten, denn das Konzert hätte bereits vor fünfzehn Minuten weitergehen sollen. Aber obwohl Maestro Carl fast alles kann, konnte er sich damals doch nicht mit mir unterhalten und gleichzeitig die zweite Hälfte des Konzertes spielen. Deshalb mussten wir unser vertrautes Gespräch an dieser Stelle jäh unterbrechen.
Ich habe Maestro Carl inzwischen öfter gesehen. Und dabei ist mir eine ungeheuerliche Vermutung zur Gewissheit geworden: Den Maestro kennt man in der ersten Sekunde, oder man kennt ihn niemals. Mit jeder zusätzlichen Begegnung rückt der Maestro ein bisschen mehr in die Ferne. Mit jedem Gespräch wird er fremder. Ich bin sicher: Wenn ich ihn nur noch wenige Mal auf der Straße treffe, werde ich mir seines Namens nicht mehr ganz sicher sein.
2. Wichtige Antworten auf unwichtige Fragen
Maestro Carl ist ein viel beschäftigter Mann. Immer hat er extrem wichtige Dinge zu tun. Immer hat er Dinge zu tun, die keinen Aufschub dulden und deren Unterlassung unweigerlich zum Untergang der Welt, vermutlich sogar zur Auslöschung des Universums führen würden. Maestro Carl ist sich dessen bewusst. Deshalb lamentiert er ganz fürchterlich, wenn er mit Sachen behelligt wird, die womöglich gar nicht lebensnotwendig und unaufschiebbar sind. Er kann, so sagt Maestro Carl, seine Zeit nicht mit irgendwelchen Nebensächlichkeiten vertrödeln.
Als ich mich mit einer äußerst wichtigen Frage an ihn wenden wollte, überlegte ich deshalb erst lange hin und her. Doch schließlich entschied ich, dass es wichtig genug war. Ich griff zum Telefon, und ich hatte enormes Glück. Ich erreichte den Maestro, und er nahm sich Zeit für mich. Allerdings ist der Maestro ein sehr höflicher Mensch. Er ist keiner, der einfach eine kurze Antwort gibt, und dann schnell wieder auflegt. Wir pflegten also zunächst etwas Konversation. Wir kamen von einem zum anderen, vom anderen zu etwas ganz anderem, und schließlich verplauderten wir uns etwas.
Wie ernst Maestro Carl unser Telefonat nahm, kann man daran ermessen, dass er während unseres Gesprächs drei andere Anrufer auf einen späteren Rückruf vertröstete. Bei einem weiteren telefonischen Störenfried beendete er nach einer Viertelstunde das Gespräch mit dem Hinweis darauf, dass er noch einen Gesprächspartner am anderen Telefon hat. Mich!
Auch die Entgegennahme eines Postpaketes und die Einweisung eines Monteurs an einem tropfenden Wasserhahn beendete unser Gespräch nicht.
Nach zwei Stunden und zehn Minuten verabschiedeten wir uns, und ich legte auf. Wir hatten über alles gesprochen. Über fast alles. Den Hörer noch in der Hand, bemerkte ich überrascht: Eine Antwort auf meine Frage hatte ich nicht bekommen. Natürlich nicht, denn ich war gar nicht dazu gekommen, meine Frage zu stellen. Mehr noch: Inzwischen konnte ich mich beim besten Willen nicht mehr entsinnen, was ich Maestro Carl hatte fragen wollen.
3. Es gibt kein falsches Leben im richtigen Leben
Eines Tages hatte ich völlig unerwartet die wunderbare Möglichkeit, mit Maestro Carl zu einem seiner Konzerte zu fahren. Mir lief ein eiskalter Freudenschauer über den Rücken. Ich habe diese unverhoffte Chance ohne zu zögern ergriffen, denn es ist eine der höchsten Ehren, die einem Menschen zuteil werden kann. Als ich in das Auto des Maestros einstieg, war ich unglaublich von mir beeindruckt. Ich war mit Maestro Carl unterwegs! Ich durfte für ein paar Stunden das Leben dieses genialen Mannes teilen. Das erlebt nicht jeder, deshalb wollte ich nun jede dieser wertvollen Minuten voll und ganz auskosten. Für ein paar gemeinsame Minuten mit Maestro Carl würde jeder vernünftige Mensch auf Erden einen Brad Pitt oder einen George Clooney im Regen stehen lassen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Gegen die Leuchtkraft von Maestro Carl waren das ja nur kleine, kaum erwähnenswerte, vergängliche Sternschnuppen. Und nun (ich habe es schnell durchgerechnet) war ich für mindestens fünfeinhalb Stunden mit Maestro Carl unterwegs. Zwei Stunden Hinfahrt, zwei Stunden Rückfahrt und dazu noch das Konzert, und ich war sozusagen die persönliche Begleitung des Maestros. Unglaublich!
Als wir schon weit, sehr weit gefahren waren, fragte mich Maestro Carl mit sanfter Stimme: „Ach, habe ich Ihnen überhaupt schon gesagt, dass wir heute nicht zurückfahren? Wir werden in E. übernachten.“ Nein, er hatte es mir nicht gesagt. Aber was soll’s. Nun wusste ich es ja. Gut, ich war auf eine mehrtägige Reise nicht vorbereitet. Ich hatte nichts, rein gar nichts eingepackt. Keinen Laptop, keinen Fotoapparat, keine Sonnenbrille, kein Moskitonetz, nicht einmal genügend Geld. Von Wechselwäsche oder einer Zahnbürste ganz zu schweigen.
Doch das alles war völlig unerheblich, denn ich war die Reisebegleitung des einmaligen, außerordentlichen Maestro Carl. Allerdings übernachteten wir dann eben nicht nur die nächste Nacht in E., sondern die übernächste Nacht dann eben auch gleich noch in K.. Ich war also tatsächlich mit Haut und Haar in der großen, weiten Welt des Glamours angekommen. Ich führte drei Tage lang das unglaubliche Leben eines weltgewandten Bohemiens.
So etwas geht nicht spurlos an der heimatlichen Enge eines normalen Sterblichen