Der exzentrische Maestro Carl. Cristina Zehrfeld
Maestro Carl ist unglaublich bekannt. Er ist außerordentlich gefragt. Und er ist unvorstellbar beliebt. Jedenfalls bei seinen Fans. Selbstverständlich hat Maestro Carl auch Feinde. Ehrlich verdiente Feine, wie er stets betont. Doch von diesen missgünstigen, neidischen und also unverständigen und nichtswürdigen Menschen soll hier nicht die Rede sein, sondern eben vom Rest der Menschheit, also von den verständigen und würdigen Menschen. Unter diesen, wie gesagt, hat der Maestro eine schier unüberschaubar große Zahl von Bewunderern und Freunden. Er selbst beziffert seine Bekannten mit zirka zweihunderttausend. Auf dieser vorsichtigen Schätzung basiert eine Carlsche Berechnung, die mich im tiefsten Inneren erschüttert hat.
„Ich kann“, so rechnete der Maestro mir vor, „nicht einmal all meinen Bekannten zum Geburtstag gratulieren. Wenn ich mit jedem davon auch nur fünf Minuten am Telefon spreche, dann schaffe ich zwölf Anrufe in der Stunde, zweihundertachtundachtzig Anrufe am Tag, Einhundertfünftausendeinhundertzwanzig Anrufe im Jahr. Das heißt, ich brauche zwei Jahre, um alle meine Bekannten anzurufen.“
Bei dieser Vorstellung wurde mir schwarz vor Augen. Zwei Jahre Zeit, in denen der Maestro weder gegessen hatte, noch gearbeitet. Zwei Jahre, in denen er kein einziges Konzert gegeben hat, geschweige denn geschlafen. Und mir hatte der Maestro volle fünf Minuten seiner Zeit geschenkt, um mir diesen Sachverhalt vorzurechnen. Fünf Minuten, in denen keiner dieser Bekannten einen Anruf bekommen hat. Mit vor Ehrfurcht erstickter Stimme fragte ich, woher er denn alle diese Leute kennt. „Aus meinen Konzerten. Mein Publikum, das sind meine Freunde, meine Musikerfreunde. Und natürlich die Bäckersfrau von gegenüber, der vietnamesische Gemüsehändler, die Männer aus meiner Autowerkstatt ...“ Es folgte eine Aufzählung, die weitere fünf Minuten in Anspruch nahm.
Ich wurde verlegen, denn mir wurde klar: Ich hatte den bescheidenen Maestro völlig zu Unrecht der schamlosen Übertreibung verdächtigt.
8. Die Live-Aufnahme in St.
Einmal spielte Maestro Carl in der Kirche zu St. ein Festkonzert zu einem bedeutenden Jubiläum. Auf ewig sollten der Glanz dieser denkwürdigen Musikaufführung und die vertraute Stimmung der Kleinstadtkirche festgehalten werden. Deshalb war eine Live-Aufnahme des Konzerts geplant. Der Maestro hatte dieses ihm vorgetragene Ansinnen bis zum Konzert glücklich wieder vergessen. Deshalb war es nur recht und billig, dass er sich, als es schließlich so weit war, gegen die für ihn nun völlig überraschende Live-Einspielung mit Händen und Füßen gesträubt hat.
Doch der Maestro ist ein gutmütiger Mann. Seine Hilfsbereitschaft und sein Entgegenkommen kennen kaum Grenzen. Er stimmte der Aufnahme also ein zweites Mal zu. Diesmal allerdings unter Vorbehalt. Der Maestro bestand darauf, die Qualität der Aufnahme vor der Veröffentlichung persönlich zu prüfen. Man gewährte es ihm, denn die Ansprüche des Maestros sind so hoch, dass seine konstruktive Kritik einer Einspielung nur dienlich sein kann.
Das Konzert verlief bestens, die Aufnahme glückte. Aber tatsächlich hatte Maestro Carl gegen die ihm vorgelegte Rohfassung der CD geringfügige, kaum erwähnenswerte Einwände. Genau genommen hat er mit Entsetzen in der Stimme ausgerufen: „Die Aufnahmequalität ist ja verheerend!“
Bei dieser spontanen Einschätzung des Maestros wurde der ehrenwerte und hochverdiente Kantor der Kirche in St. blass. Ein für diese kleine Kirche geradezu bombastisches Musikerensemble war eingeladen worden. Man hatte nicht Kosten noch Mühen gescheut, um eine adäquate CD-Aufnahme vorzulegen. Und nun das!
Der Kantor war den Tränen nahe. Maestro Carl sah das Dilemma. Doch er ist keiner, der schnell aufgibt. Persönlich ist er ins Tonstudio gefahren und hat sich dieser „verheerenden Aufnahme“ angenommen. Es wurde hier ein bisschen korrigiert, da ein bisschen verfeinert. Lange, mühevolle Stunden hat der Maestro in die Rettung dieser Aufnahme gesteckt. Und als er endlich die fertige CD anhörte, war er zufrieden. Die CD konnte erscheinen, und sie ging weg, wie die sprichwörtlichen warmen Semmeln.
Manche Nörgler sagen dennoch hinter vorgehaltener Hand, dass der Klang der CD nicht hundertprozentig die Akustik der Kirche zu St. widerspiegelt. Das allerdings behauptet Maestro Carl auch gar nicht. Er schwärmt: „Es klingt, wie im Freiberger Dom.“
9. Besuch bei Freunden
Freundschaften muss man pflegen. Das sagt sich sehr einfach, wenn man für solche Freundschaftspflege genügend Zeit hat. Doch Menschen wie Maestro Carl müssen mit ihrer Zeit haushalten. Sehr viele Freunde und keine freie Minute, das muss einer erst unter den Hut bringen. Der Maestro schafft es.
Einmal habe ich des Maestros Anstrengung erlebt, die er in seine Freunde investiert. Zwischen dem Gottesdienst in seiner Gemeinde am Sonntagmorgen und dem Konzert am Nachmittag lagen fünf Stunden. Außerdem lagen zwischen beiden Terminen zweihundertdreißig Kilometer, für die laut Navigationsgerät drei Stunden eingeplant werden mussten. Ehe der Maestro tatsächlich starten konnte, verging noch eine Stunde, in der er hier etwas besprach, da das Programm für den Nachmittag kopierte und dort etwas zum Essen kaufte. Vier Stunden vor Konzertbeginn war also Start, und der Maestro rechnete kühlen Kopfes, dass er die Drei-Stunden-Strecke ohne weiteres in zweieinhalb Stunden schafft. Eineinhalb Stunden Zeit also, um einen kleinen Umweg zu Freunden zu wagen. Er hatte sich schon telefonisch angekündigt und fuhr nun wie der sprichwörtliche Henker, um eventuell noch weitere fünf Minuten herauszuholen, die er mit seinen Freunden verbringen würde. Eine Umleitung und ein Schwerlasttransporter sorgten dafür, dass der Maestro doch länger für die Fahrt brauchte als eingeplant. Trotzdem: Eine Stunde und zwanzig Minuten vor Konzertbeginn klingelte der Maestro bei seinen Freunden. Er war am Ende seiner Kräfte. Mit dem letzten Fünkchen Energie ließ er sich in einen ausladenden Sessel fallen und ist augenblicklich eingeschlafen. Eine Stunde lang habe ich mit den freundlichen, aber mir gänzlich fremden Freunden des Maestros eine angeregte Konversation gepflegt. Der Maestro schlief unterdessen tief und fest.
Schließlich mussten wir ihn wecken, denn wir mussten wieder los. Viel erfahren haben seine Freunde an diesem Nachmittag nicht von Maestro Carl. Aber keiner kann sagen, dass er sie nicht besucht hätte.
10. Maestro Carl setzt Zeichen
Manche Leute behaupten, dass Maestro Carl seinem Äußeren nicht genügend Beachtung schenkt. Dieser Behauptung muss ich entschieden widersprechen. Alles, was Maestro Carl tut, das tut er mit Bedacht. Wohl ist es wahr, dass der Maestro kein Modegeck ist. Doch das ist nicht Nachlässigkeit. Es ist Programm. „Wer anders denkt, als seine Zeitgenossen“, so das Credo des Maestros, „der muss sich auch anders kleiden.“ Der Maestro denkt sehr anders als seine Zeitgenossen. Sein Äußeres ist deshalb immer einzigartig, und es ist voll von intensiver Aussage. Jede seiner Jacken ist ein Kommentar zum Zeitgeschehen. Jedes Paar seiner Schuhe ist eine manifest gewordene These. Manchmal ist die Aussage recht leicht zu entschlüsseln. Wenn der Maestro zum Beispiel seinen alten schwarzen Pullover überstreift, dann sagt das dem Betrachter auch ohne Worte: „Der geht noch. Warum soll ich Geld für einen neuen ausgeben?“ Seine zerknautschten Hosen sind der stille Protest gegen unsere allzu glatt gebügelte Gesellschaft. Der wollene Schal bekundet unmissverständlich: „In vielen der Kirchen, in denen ich spiele, ist es fürchterlich kalt.“ Oft freilich ist die Aussage seines progressiven Outfits deutlich subtiler. Auch ich bin daher längst nicht immer in der Lage, die Hintergründe seines extravaganten Äußeren zu entschlüsseln. Als er seine Haare länger wachsen ließ und sich eine Pagenfrisur zulegte, hielt ich das zunächst für Unentschlossenheit. Bis Maestro Carl mit Pathos in der Stimme verkündete: „Heuer ist Liszt-Jahr!“
11. Maestro Carl komponiert
Es gibt Tage, die man nie vergisst. Dazu gehört für mich jener Tag im Mai, als ich in der Wohnung des Maestros erlebte, wie Kunst entsteht. Maestro Carl ließ mich eintreten, er begrüßte mich flüchtig, doch er schien mit seinen Gedanken abwesend. Wie in Trance schlurfte er zu seinem Klavier zurück. Den wenigen Satzfetzen auf dem Weg dahin konnte ich entnehmen, dass es angebracht war, sich still zu verhalten. Der Maestro setzte sich auf seinen Klavierhocker.