Winnetou Band 1. Karl May
die
eigentliche und richtige Hochschule ist, deren Schüler täglich und stündlich geprüft werden und vor der
Vorsehung zu bestehen haben, daran wollte mein jugendlicher Sinn damals nicht denken. Unerquickliche
Verhältnisse in der Heimat und ein, ich möchte sagen, angeborener Tatendrang hatten mich über den
Ozean nach den Vereinigten Staaten getrieben, wo die Bedingungen für das Fortkommen eines
strebsamen jungen Menschen damals weit bessere und günstigere waren als heutzutage. Ich hätte in den
Oststaaten recht wohl ein gutes Unterkommen gefunden, aber es trieb mich nach dem Westen. Bald auf
diese und bald auf jene Weise für kurze Zeit tätig, verdiente ich mir so viel, daß ich, äußerlich wohl
ausgerüstet und innerlich von frohem Mute erfüllt, in St. Louis ankam. Dort führte mich das Glück in eine
deutsche Familie, in welcher ich einen einstweiligen Unterschlupf als Hauslehrer fand. In dieser Familie
verkehrte Mr. Henry, ein Original und Büchsenmacher, welcher sein Handwerk mit der Hingebung eines
Künstlers betrieb und sich mit altväterischem Stolze Mr. Henry, the Gunsmith nannte.
Dieser Mann war ein außerordentlicher Menschenfreund, obgleich er das Gegenteil zu sein schien, da er
außer der erwähnten Familie mit keinem Menschen verkehrte und selbst seine Kunden so kurz und
schroff behandelte, daß sie nur der Güte seiner Ware wegen zu ihm kamen. Er hatte seine Frau und
Kinder durch ein grausiges Ereignis verloren, über welches er nie sprach, doch vermutete ich infolge
einiger seiner Äußerungen, daß sie bei einem Überfalle ermordet worden waren. Das hatte ihn äußerlich
rauh gemacht; er wußte es vielleicht gar nicht, daß er eigentlich ein perfekter Grobian war; der Kern aber
war mild und gut, und ich habe oft sein Auge feucht gesehen, wenn ich von der Heimat und den Meinen
erzählte, an denen ich mit ganzem Herzen hing und auch heut noch hänge.
Warum er, der alte Mann, grad für mich, den jungen, fremden Menschen, eine solche Vorliebe zeigte, das
wußte ich nicht, bis er es mir einmal sagte. Seit ich da war, kam er öfters als vorher, hörte dem
Unterrichte zu, nahm mich, wenn dieser beendet war, für sich in Beschlag und lud mich schließlich sogar
ein, ihn zu besuchen. Ein solcher Vorzug war noch keinem Andern zu teil geworden, und ich hütete mich
daher, die mir gewordene Erlaubnis auszubeuten. Diese Zurückhaltung schien ihm aber keineswegs lieb
zu sein; ich erinnere mich noch heut des zornigen Gesichtes, welches er mir eines Abends, als ich zu ihm
kam, zeigte, und des Tones, in welchem er mich empfing, ohne auf mein "good evening" zu antworten:
»Wo habt Ihr denn gestern gesteckt, Sir?«
»Zu Hause.«
»Und vorgestern?«
»Auch zu Hause.«
»Macht mir doch nichts weis!«
»Es ist wahr, Mr. Henry.«
»Pshaw! Solche grüne Vögel, wie Ihr einer seid, bleiben nicht im Neste hocken; die stecken die Schnäbel
überall hin, nur da nicht, wo sie hingehören!«
»Und wo gehöre ich hin, wenn es Euch beliebt, es mir zu sagen?«
»Hierher zu mir, verstanden! Habe Euch schon lange einmal nach etwas fragen wollen.«
»Warum habt Ihr es nicht getan?«
»Weil ich nicht wollte. Hört Ihr es?«
»Und wann wollt Ihr denn?«
»Heute vielleicht.«
»So fragt getrost nur zu,« forderte ich ihn auf, indem ich mich hoch auf die Schraubenbank setzte, an
welcher er arbeitete.
Er sah mir ganz verwundert in das Gesicht, schüttelte mißbilligend den Kopf und rief aus:
»Getrost! Als ob ich so ein Greenhorn, wie Ihr seid, erst um Erlaubnis fragen müßte, wenn ich mit ihm
reden will!«
»Greenhorn?« antwortete ich, die Stirn in Falten ziehend, denn ich fühlte mich bedeutend verletzt. »Ich
will annehmen, Mr. Henry, daß dieses Wort Euch ohne Absicht und nur so herausgefahren ist!«
»Bildet Euch doch nichts ein, Sir! Ich habe mit vollem Bedacht gesprochen; Ihr seid ein Greenhorn, und
was für eins! Den Inhalt Eurer Bücher habt Ihr gut im Kopfe, das ist wahr. Es ist ganz erstaunlich, was ihr
Leute da drüben lernen müßt! Dieser junge Mensch weiß genau, wie weit die Sterne von hier entfernt
sind, was der König Nebukadnezar auf Ziegelsteine geschrieben hat und wie schwer die Luft wiegt, die er
doch nicht sehen kann! Und weil er dies weiß, bildet er sich ein, ein gescheiter Kerl zu sein! Aber steckt
die Nase ins Leben, versteht Ihr mich, so ungefähr fünfzig Jahre ins Leben hinein; dann werdet Ihr, aber
auch nur vielleicht, erfahren, worin die richtige Klugheit besteht! Was Ihr bis jetzt wißt, ist nichts ist gar
nichts. Und was Ihr bis jetzt könnt, ist noch viel weniger. Ihr könnt ja nicht einmal schießen!«
Er sagte dies in einem außerordentlich verächtlichen Tone und mit einer solchen Bestimmtheit, als ob er
seiner Sache förmlich sicher sei.
»Nicht schießen? Hm!« antwortete ich lächelnd. »Ist dies vielleicht die Frage, welche Ihr mir vorlegen
wolltet?«
»Ja, die ist es. Nun antwortet doch einmal!«
»Gebt mir ein gutes Gewehr in die Hand, so will ich antworten, eher nicht.«
Da legte er den Büchsenlauf, an welchem er schraubte, weg, stand auf, trat nahe an mich heran, fixierte
mich mit verwunderten Augen und rief aus:
»Ein Gewehr in die Hand, Sir? Wird mir nicht einfallen, ganz und gar nicht! Meine Gewehre kommen nur
in solche Hände, in denen ich mit ihnen Ehre einlegen kann!«
»Solche hab ich,« nickte ich ihm zu.
Er sah mich noch einmal, und zwar von der Seite an, setzte sich wieder nieder, begann wieder an dem
Laufe zu arbeiten und brummte vor sich hin:
»So ein Greenhorn! Könnte mich wirklich wild machen mit seiner Dreistigkeit!«
Ich ließ ihn gewähren, denn ich kannte ihn, zog eine Zigarre hervor und brannte sie an. Dann blieb es
wohl eine Viertelstunde lang still zwischen uns. Länger aber konnte er es nicht aushalten; er hielt den
Lauf gegen das Licht, sah hindurch und bemerkte dabei:
»Schießen ist nämlich schwerer als nach den Sternen gucken oder alte Ziegelsteine von Nebukadnezar
lesen. Verstanden? Habt Ihr denn jemals ein Gewehr in der Hand gehabt?«
»Ich denke.«
»Wann?«
»Schon längst und oft.«
»Auch angelegt und abgedrückt?«
»Ja.«
»Und getroffen?«
»Natürlich!«
[Illustration Nr. 1: Zum erstenmal den Bärentöter in der Hand]
Da ließ er den Lauf, den er geprüft hatte, rasch sinken, sah