Winnetou Band 1. Karl May
»Was? Wollt Ihr mir das im Ernste aufbinden?«
»Behaupten, aber nicht aufbinden; es ist wahr.«
»Hol Euch der Teufel, Sir! Aus Euch wird man nicht klug. Ich bin überzeugt, daß Ihr an einer Mauer
vorbeischießen würdet, und wenn sie zwanzig Ellen hoch und fünfzig Ellen lang wäre, und doch macht
Ihr bei Eurer Behauptung ein so ernstes und zuversichtliches Gesicht, daß einem darüber die Galle
überlaufen könnte. Ich bin kein Knabe, dem Ihr Stunde gebt, verstanden! So ein Greenhorn und
Bücherwurm, wie Ihr seid, will schießen können! Hat sogar in türkischen, arabischen und andern
dummen Scharteken herumgestöbert und will dabei Zeit zum Schießen gefunden haben! Nehmt doch
einmal das alte Gun Gewehr, Büchse. da hinten vom Nagel, und legt es an, als ob Ihr zielen wolltet! Es ist
ein Bärentöter, der beste, den ich jemals in den Händen gehabt habe.«
Ich ging hin, langte die Büchse herab und legte sie an.
»Halloo!« rief er aus, indem er aufsprang. »Was ist denn das? Ihr geht ja mit diesem Gun wie mit einem
leichten Spazierstocke um, und doch ist es das schwerste Gewehr, welches ich kenne! Besitzt Ihr denn
eine solche Körperkraft?«
Anstatt der Antwort nahm ich ihn unten bei der zugeknöpften Jacke und bei dem Hosenbund und hob ihn
mit dem rechten Arm empor.
»Thunder-storm!« schrie er auf. »Laßt mich los! Ihr seid ja noch weit kräftiger als mein Bill.«
»Euer Bill? Wer ist das?«
»Er war mein Sohn, der lassen wir das! Er ist tot, wie die Andern auch. Er versprach, ein tüchtiger Kerl
zu werden, wurde aber während meiner Abwesenheit mit ihnen ausgelöscht. Ihr seid ihm ähnlich von
Gestalt, habt beinahe dieselben Augen und auch denselben Zug um den Mund; darum bin ich Euch na,
das geht Euch ja doch nichts an!«
Der Ausdruck tiefer Trauer hatte sich über sein Gesicht gebreitet; er fuhr mit der Hand über dasselbe und
fuhr dann in munterem Tone fort:
»Aber, Sir, bei Eurer Muskelkraft ist es wirklich jammerschade, daß Ihr Euch so auf die Bücher geworfen
habt. Hättet Euch körperlich üben sollen!«
»Habe ich auch.«
»Wirklich?«
»Ja.«
»Boxen?«
»Wird drüben bei uns nicht getrieben. Aber im Turnen und Ringen mache ich mit.«
»Reiten?«
»Ja.«
»Fechten?«
»Habe ich Unterricht erteilt.«
»Mann, schneidet nicht auf!«
»Wollt Ihr es versuchen?«
»Danke; habe genug von vorhin! Muß überhaupt arbeiten. Setzt Euch wieder nieder!«
Er kehrte zu seiner Schraubenbank zurück, und ich tat dasselbe. Die nun folgende Unterhaltung war eine
höchst einsilbige; Henry schien sich in Gedanken mit irgend etwas Wichtigem zu beschäftigen. Plötzlich
sah er von der Arbeit auf und fragte:
»Habt Ihr Mathematik getrieben?«
»War eine meiner Lieblingswissenschaften.«
»Arithmetik, Geometrie?«
»Natürlich.«
»Feldmesserei?«
»Sogar außerordentlich gern. Bin sehr oft, ohne daß ich es notwendig hatte, mit dem Theodolit draußen
herumgelaufen.«
»Und könnt messen, wirklich messen?«
»Ja. Ich habe mich sowohl an Horizontal-, als auch an Höhenmessungen oft beteiligt, obgleich ich nicht
behaupten will, daß ich mich als ausgelernten Geodäten betrachte.«
»Well sehr gut, sehr gut!«
»Warum fragt Ihr danach, Mr. Henry?«
»Weil ich eine Ursache dazu habe. Verstanden! Braucht es jetzt nicht zu wissen; werdet es schon noch
erfahren. Muß vorher wissen hm, ja, muß vorher wissen, ob Ihr schießen könnt.«
»So stellt mich auf die Probe!«
»Werde es auch tun; ja, werde es tun; darauf könnt Ihr Euch verlassen. Wann beginnt Ihr morgen früh den
Unterricht?«
»Um acht Uhr.«
»So kommt um sechs zu mir. Wollen hinauf auf den Schießstand gehen, wo ich meine Gewehre
einschieße.«
»Warum so früh?«
»Weil ich nicht länger warten will. Bin ganz begierig darauf, Euch zu zeigen, daß Ihr ein Greenhorn seid.
Jetzt genug davon, habe Anderes zu tun, was weit, weit wichtiger ist.«
Er schien mit dem Gewehrlaufe fertig zu sein und nahm aus einem Kasten ein polygones Eisenstück,
dessen Ecken er abzufeilen begann. Ich sah, daß jede Fläche desselben ein Loch hatte.
Er war mit solcher Aufmerksamkeit bei dieser Arbeit, daß er meine Gegenwart ganz vergessen zu haben
schien. Seine Augen funkelten, und wenn er sein Werk von Zeit zu Zeit betrachtete, so sah ich, daß es, ich
möchte beinahe sagen, mit einem Ausdrucke von Liebe geschah. Dieses Eisenstück mußte einen großen
Wert für ihn haben. Ich war neugierig, zu erfahren, warum; darum fragte ich ihn:
»Soll das auch ein Gewehrteil werden, Mr. Henry?«
»Ja,« antwortete er, als ob er sich besinne, daß ich noch da sei.
»Aber ich kenne kein Gewehrsystem, das einen derartigen Teil besitzt.«
»Glaube es. Soll erst noch werden. Wird wohl System Henry werden.«
»Ah, eine neue Erfindung?«
»Yes.«
»Dann bitte ich um Entschuldigung, daß ich gefragt habe! Es ist natürlich Geheimnis.«
Er guckte eine längere Zeit in alle die Löcher hinein, drehte das Eisen nach verschiedenen Richtungen,
hielt es einige Male an das hintere Ende des Laufes, den er vorhin fortgelegt hatte, und sagte endlich:
»Ja, es ist ein Geheimnis; aber ich traue Euch, denn ich weiß, daß Ihr Verschwiegenheit besitzt, obgleich
Ihr ein ausgemachtes, richtiges Greenhorn seid; darum will ich Euch sagen, was es werden soll. Es wird
ein Stutzen, ein Repetierstutzen mit fünfundzwanzig Schüssen.«
»Unmöglich!«
»Haltet Euren Schnabel! Ich bin nicht so dumm, mir etwas Unmögliches vorzunehmen.«
»Aber da müßtet Ihr doch Kammern zur Aufnahme der Munition für fünfundzwanzig Schüsse haben!«
»Habe ich auch!«
»Die würden aber so groß und unhandlich sein, daß sie genierten.«
»Nur eine Kammer; ist ganz handlich und geniert gar nicht. Dieses Eisen ist die Kammer.«
»Hm! Ich verstehe mich auf Euer Fach ja gar nicht; aber wie steht es mit der Hitze? Wird der Lauf zu
heiß?«
»Fällt ihm nicht ein. Material und Behandlung des Laufes sind mein Geheimnis.