Belon-Austern. Jean-Pierre Kermanchec
„Mein Kollege, Paul Chevrier“, stellte er Paul vor.
„Ich habe schon viel von Ihnen gehört. Letztes Jahr haben Sie doch diesen spektakulären Fall mit den Geldfälschern gelöst. Die Zeitungen sind voll davon gewesen.“
„So spektakulär war der Fall auch nicht“, versuchte Kerber herunterzuspielen. Er mochte nicht gelobt werden.
„Haben Sie einen Schlüssel bei der Toten gefunden?“, fragte Corbel.
„Wir haben mehrere Schlüssel gefunden. Ich habe sie alle mitgebracht, in der Hoffnung, dass einer zur Wohnung passt.“
Die drei Kommissare gingen zum Haus, in dem insgesamt sechs Familien zu wohnen schienen. An dem Briefkasten, in der Mitte der untersten Reihe, stand der Name von Madame Kerivel. Ewen sah sich den ersten Schlüsselbund an und stellte fest, dass an diesem kein Schlüssel für einen Briefkasten hing. Er sah sich den zweiten an, hier sah er einen deutlich kleineren Schlüssel, der zu einem Briefkasten passen konnte. Er nahm den Schlüssel und versuchte den Briefkasten zu öffnen. Die Klappe öffnete sich, und aus dem Kasten fielen fünf Briefe heraus. Ewen fing die Briefe auf und gab sie Monsieur Corbel.
„Mir scheint, dass ich hier den richtigen Schlüsselbund habe. Lasst uns mal in die Wohnung gehen.“
Die Wohnung von Madame Kerivel lag auf der zweiten Etage. Als sie vor der Wohnungstür standen, nahm Ewen den Schlüssel, den er als Wohnungsschlüssel identifiziert hatte, und steckte ihn ins Schloss. Der Schlüssel passte, und die Tür ließ sich leicht öffnen. Die drei Kommissare betraten die Wohnung. Sie vermittelte einen sehr aufgeräumten Eindruck. Alles schien, unberührt zu sein. Nichts deutete darauf hin, dass hier jemand eingebrochen war und nach etwas gesucht hatte. Sie machten sich an die Arbeit, die Wohnung systematisch zu durchsuchen. Ewen hoffte einen Anhaltspunkt zu finden, der ihm weiterhelfen würde.
Die Wohnung hatte eine Küche, ein Schlaf- und Wohnzimmer und ein kleines Büro. Paul durchsuchte die Küche und das Schlafzimmer, während der Kollege Corbel sich das Wohnzimmer vorgenommen hatte. Ewen war ins Büro gegangen, um sich die Papiere der Frau näher anzusehen. Vor allem die Kontoauszüge und der gesamte Schriftverkehr interessierten ihn.
Aus den Kontoauszügen konnte er nun die Beträge entnehmen, die sein Kollege schon bei der Bank ermittelt hatte.
Ewen zog eine Schublade nach der anderen an ihrem Schreibtisch auf und sah sich alles genau an. In der untersten Schublade fand er eine Liste.
1 Brelivet Raymond (Autohändler) St. Malo, 60.000 Juli 2011
2 Maurice Guilvit (Industrieller) Nantes, 60.000 August 2011
3 Yves Le Meur (Barbesitzer und Zuhälter) Quimper, 120.000 Mai 2011
4 Damien Sizun (Banker) Rennes 120.000, Sept. 2012
5 Gilles Coray (Werftbesitzer) Lorient, 180.000, April 2013
6 André Salaun (Austernzüchter) Riec-sur Belon
7 Guy de Moros (Schriftsteller)
Ewen sah sich die Liste an und addierte die genannten Summen. Er kam auf 540.000 Euro. Ewen dachte an die Summen, die Paul ihm genannt hatte. Er hatte ihm doch gesagt, dass der Kontostand 720.000 Euro betrug. Das hieß, dass die letzte Einzahlung von André Salaun stammen musste, wenn er die Liste richtig interpretierte. Er hielt wohl ihre Opferliste in der Hand. Frau Germaine Kerivel hatte die angeführten Personen wohl um die jeweiligen Summen erpresst oder betrogen. Ewen legte die Liste zu der Akte der Toten. Er sah sich weiter in dem kleinen Büro um. In der Ecke hinter der Tür lag ein Laptop in einer Tasche. Ewen nahm den Computer an sich. Die Kollegen sollten den Rechner überprüfen. Vielleicht befänden sich dort nähere Informationen über die Geschäfte der Frau Kerivel. Als Ewen mit dem Zimmer fertig war, ging er zu seinem Kollegen aus Morlaix, in das Wohnzimmer.
„Nun, was gefunden?“, fragte er ihn.
„Nichts Wesentliches, die üblichen Bilderalben, eine kleine Briefmarkensammlung aus der Kindheit, Liebesbriefe von diversen Männern, und einige Perücken lagen in dem Schrank. Die Frau schien ihr Äußeres häufig verändert zu haben. Die Perücken gab es in blond, braun, schwarz und sogar mit rotem Haar.“
„Das passt zu dem, was ich gefunden habe“, sagte Ewen und nahm die Liste aus der Akte. In diesem Moment kam auch Paul ins Wohnzimmer.
„In der Küche habe ich nichts gefunden. Der Kühlschrank ist ziemlich leer, ich schätze, dass sie schon lange nicht mehr in der Wohnung gewesen ist. Auch im Schlafzimmer ist nichts Wesentliches zu finden gewesen. Was habt ihr gefunden?“
„Ich habe eine ganz interessante Liste im Büro entdeckt, und Kollege Corbel hat diverse Perücken gefunden, was ganz gut zu meiner Liste passt.
Seht euch das mal an. Die Frau hat Buch geführt über Männer, mit denen sie wohl intim gewesen sein muss. Die Männer haben ihr hohe Summen gegeben. Auf der Liste sind die Beträge aufgelistet, die du, Paul, gestern von der Bank genannt bekommen hast. Nur hinter dem vorletzten und letzten Namen, dem Monsieur André Salaun und Guy de Moros, stehen keine Summen. Ich gehe davon aus, dass die 180.000 Euro auf dem Einzahlungsschein, den wir gestern gefunden haben, von Monsieur Salaun stammen. Das ist der Betrag, der gestern bei der BNP-Paribas einbezahlt worden ist. Die Summen passen zum Kontostand.“
„Dann könnt ihr ja wohl davon ausgehen, dass die Frau eine Betrügerin gewesen ist und dass der Mörder auf der Liste steht.“ Jacques Corbel sah seine Kollegen aus Quimper an und wartete auf eine Antwort.
Ewen studierte immer noch die Liste. Er war geneigt, seinem Kollegen aus Morlaix zuzustimmen. Sicher war er sich allerdings nicht. Vieles sprach für eine Revanche, nach einer Erpressung oder einem Betrug. Aber aus seiner langjährigen Erfahrung wusste er auch, dass man sehr vorsichtig sein musste mit schnellen Schlussfolgerungen. Häufig steckte noch etwas anderes dahinter.
„Wir werden die Leute alle aufsuchen müssen und sie verhören. Es wird nicht einfach sein, den Mörder zu finden. Falls die Liste wiedergibt, was wir jetzt vermuten, dann haben alle Geprellten ein Motiv.
Ich habe noch den Laptop der Toten gefunden, Sie haben ja nichts dagegen, wenn wir ihn mit nach Quimper nehmen und von unseren Technikern untersuchen lassen?“ Ewen hatte die Worte an seinen Kollegen Corbel gerichtet.
„Nicht im geringsten. Es macht doch Sinn, wenn ihr den PC direkt in Quimper untersucht.“
„Ich danke Ihnen jedenfalls, Monsieur Corbel, für ihre Kooperation und Hilfe. Eigentlich habe ich mir noch die Freunde, Bekannten oder Verwandten ansehen wollen. Wäre es möglich, dass ihr das übernehmt, und falls sich etwas Wichtiges ergibt, uns die Information übermittelt?“
„Das ist kein Problem, machen wir gerne!“, antwortete Kommissar Corbel.
„Wir machen uns dann wieder auf den Weg, zurück nach Quimper.“
„Noch einen Augenblick, liebe Kollegen, sollten wir uns nicht noch schnell die letzte Post ansehen?“
„Natürlich, das hatte ich schon ganz vergessen.“
Corbel nahm die Briefe zur Hand und sah sich die Absender an. Zwei Briefe waren Rechnungen von der EDF und von der GDF. Ein Brief enthielt einen Kontoauszug von der BNP Paribas, ein weiterer enthielt ein Angebot, für ein kostenloses Wochenende in den Vogesen, wenn man das Glück hatte, nach dem Kauf einer neuen Bettdecke, der glückliche Gewinner der stattfindenden Tombola zu sein. Der fünfte Brief kam aus Australien und trug als Absender den Namen, Maurice Fillancourt.
Corbel öffnete den Brief und las ihn kurz durch.
„Mir scheint, wir haben hier den Namen ihres wirklichen Freundes. Der Monsieur Fillancourt schreibt, dass er jetzt die richtige Farm gefunden hat, und dass sie jetzt nur noch das Geld zum Kauf benötigen. Der Verkäufer ist bereit, noch drei Monate mit dem Verkauf zu warten. Er fragt Germaine, ob sie es schaffen kann, das Geld in vier Wochen zusammenzuhaben.“
„Das ist ja sehr interessant. Das Pärchen hat das ergaunerte Geld nutzen wollen, um sich eine Existenz in Australien aufzubauen? Weit