Ziggerau. Cristina Zehrfeld
Naturgemäß ist es ganz und gar undenkbar, dass jemand freiwillig und ohne Not ein Paradies wie Sankt Sören verlässt. Wenn der besonnene Maestro Carl diesem Sehnsuchtsort der Geldaristokratie den Rücken kehrt, darf man ganz gewiss davon ausgehen, dass seine neue Wahlheimat eine Perle, ein Leuchtturm, eine Attraktion allerersten Ranges ist. Tatsächlich kann die Herrlichkeit von Ziggerau gar nicht genug gepriesen werden. Zuallererst muss dabei ein allgemein bekannter, nichtsdestotrotz aber immer wieder beeindruckender Fakt genannt werden: Im Jahr 1810 ist an diesem schönen Fleckchen Erde, im Herzen von Sachsen, der örtliche Verlagsbuchhändler Friedrich August Gottlob Schumann zum sechsten Mal Vater geworden. Dieses sensationellen Ereignisses gedenkt die Stadt mit einem Schumann-Museum, einem Schumann-Denkmal, einem Schumann-Konservatorium, einem Schumann-Wettbewerb, einer Schumannstraße und einer Schumann-Etage im Kindergarten Schummelbär. Doch um es ganz klar zu sagen: Die Verdienste von Friedrich August Gottlob Schumann beschränken sich keineswegs auf seine sechsfache Vaterschaft. Der Mann ist zudem als Erfinder des Taschenbuchs in die Geschichtsbücher eingegangen. Auch als Touristenattraktion kann sich die Schumann-Stadt Ziggerau zweifellos mit dem unvergleichlichen Sören messen, denn hier gibt es ein Gotteshaus, welches jenem in Sören durchaus das Wasser reichen kann: Im Zentrum der Stadt steht nämlich ein wahrhaftiger Dom, was umso erstaunlicher ist, als in Ziggerau niemals ein Bischof residiert hat. Die außerordentliche Berühmtheit von Ziggerau allerdings gründet sich auf jene beiden Dinge, auf die es wirklich ankommt im Leben: Kohle bis zum Abwinken und Autos, bei denen Blechschäden völlig ausgeschlossen sind. Ziggerau despektierlich als "Wolfsburg des Ostens" zu bezeichnen wird der gigantischen Bedeutung der Stadt daher mitnichten gerecht.
„Zweifelsfrei ist der ehemalige Konzertorganist des Leipziger Gewandhauses einer der klangsensibelsten Orgelspieler unserer Tage, dem manuell-technische Schwierigkeiten fremd zu sein scheinen.“
(Zitat aus der Braunschweiger Zeitung im Schneeberger Stadtanzeiger vom 14. September 2004)
Die übereifrige Urgroßcousine
Kulturhistorische Bedeutung und architektonische Schönheit allein hätten vermutlich dennoch nicht ausgereicht, um Maestro Carl von seiner geliebten Insel wegzulocken. Entscheidend für den bemerkenswerten Wechsel waren vielmehr die engen familiären Bande des Maestros. Soweit ich das verstanden habe, lebt in Ziggerau eine Urgroßcousine vierten Grades mütterlicherseits. Ebendiese Verwandte hat ihren Urgroßcousin in ihrer Nähe haben wollen. Aus diesem Grund hat sie Maestro Carl bei ihrem Pfarrer als künftigen Kirchenmusiker für ihre Heimatstadt vorgeschlagen. Wie jedes Kind weiß, werden Kantorenposten allerdings eher selten auf den formlosen Vorschlag eines Gemeindegliedes hin vergeben. Bei der Kirche wird seit je nicht nur Treu und Redlichkeit gepredigt, sondern vor allem anderen auf Zucht und Ordnung geachtet. Kirche ohne strikte Einhaltung der Regeln ist ja ganz und gar unvorstellbar. Das Problem an der Sache war, dass Maestro Carl sich einerseits wegen seiner Erfahrungen in diesem Metier schon vor Jahren beim heiligen Luzifer geschworen hatte, sich nie wieder um irgendeine Stelle zu bewerben, und sei sie noch so attraktiv. Andererseits ist es bekanntermaßen ganz unmöglich, ohne Bewerbung eine Anstellung als Kantor zu bekommen. Es war also eine an sich ausweglose Situation. Das wusste auch der zuständige Pfarrer Schmidt. Deshalb hat er die übereifrige Urgroßcousine auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt, indem er ihr unmissverständlich klargemacht hat: „Ich werde mich keinesfalls bei Maestro Carl darum bewerben, dass er Kantor in Ziggerau wird.“ Allerdings hat der Pfarrer sich dann eben doch einwickeln lassen von der rührigen Verwandtschaft. Er hat Maestro Carl höchst liebenswürdige Zeilen zukommen lassen und ihm die Ziggerauer Kantorenstelle mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln schmackhaft gemacht. Schmidt lobte die Orgeln seiner Kirchen über die Maßen, er plauderte wortreich von einer hochmusikalischen Gemeinde und einer luxuriösen Dienstwohnung. Er versicherte ihm, dass er seit Jahrzehnten sein größter Fan sei und dass man in Ziggerau seit Jahren hart daran arbeite, zur Orgelhauptstadt Europas aufzusteigen. Freilich war Schmidt nicht blauäugig. Ihm war nur allzu bewusst, dass das kleine Ziggerau für den großen Maestro Carl trotz dieser in schillerndsten Farben beschriebenen Vorzüge kaum attraktiv sein konnte. Deshalb ließ er auch deutlich durchklingen, dass diese Kantorenstelle den Meister nicht im Mindesten von seiner ungestümen Konzerttätigkeit abhalten würde. Einer so inständig vorgetragenen Bitte konnte sich Maestro Carl nicht entziehen. Er rief also Schmidt an und kam einige Tage später höchstpersönlich nach Ziggerau, um die Gegebenheiten in Augenschein zu nehmen. Entgegen aller Wahrscheinlichkeit wurde man sich schnell einig. Maestro Carl ließ Schmidt einige Unterlagen zukommen, mit denen der Pfarrer seiner Landeskirche vorgaukeln konnte, es habe sich um eine ganz normale, reguläre Bewerbung gehandelt, und ehe man sich versah, war der Deal perfekt. Doch was heißt Deal: Es war eine Sensation ersten Ranges.
„Schon Eisenbergs Auftrittsapplaus hätte manch anderer gern für sein Finale geerntet.“
(Anastasia Poscharsky-Ziegler, Januar 2001)
Retter in höchster Not
Keinesfalls wird man Maestro Carl je gerecht, wenn man glaubt, dass er bei seinen Entscheidungen ausschließlich an sich selbst denkt. Immer hat er vor allem das Wohl der Kirche im Auge. Wenngleich Pfarrer Schmidt nämlich mit seinem unbürokratischen Vorgehen die deutschen Tugenden mit Füßen getreten hat, lässt sich letztlich nicht leugnen, dass mit diesen verwerflichen Machenschaften größeres Übel von Ziggerau abgewendet wurde. Betonen muss ich hier zunächst, dass es sich bei der infrage stehenden Stelle keineswegs um den vermeintlich lukrativen Kantorenposten in dem bereits erwähnten Dom handelte. Da ein Dom ohne Bischof allerdings ohnehin nur den Namen Schummel-Dom verdient, hätte Maestro Carl sich zweifellos geweigert, bei so einer haarsträubenden Aufschneiderei mitzumachen. Nein es ging keineswegs um den prestigeträchtigen Job eines unechten Domkantors. Vielmehr hat sich der Maestro als echter Kantor an einem Vierteldutzend weniger spektakulären Kirchen anheuern lassen. Seine neuen Arbeitsplätze waren die 1906 geweihte Martinskirche, die 1680 fertiggestellte Mauritiuskirche und die klitzekleine Selbdritt-Kirche, deren Historie bis ins 13. Jahrhundert zurückreicht. Alle drei Gotteshäuser waren durch ein inniges, schwesterliches Miteinander verbunden. Allerdings waren die Gemeinden in jüngerer Vergangenheit kirchenmusikalisch nicht gerade verwöhnt gewesen. Nur die ältesten Gemeindeglieder konnten sich überhaupt noch dunkel an jene längst vergangene Ära erinnern, als ihre Gemeinden über einen hauptberuflichen Kantor verfügten. Gleichwohl auf allen Kanälen nach einem Nachfolger gesucht worden war, hatte sich doch niemand gefunden, der willens gewesen wäre, in dieser von Gott verwöhnten Gegend seiner heiligen Pflicht nachzukommen. Die musikalischen Aktivitäten waren im Laufe der Zeit entsprechend übersichtlich geworden: Aller zwei Wochen traf sich der siebenköpfige Kirchenchor unter Leitung von Friedhild Kubernagel, um die Choräle für den Gottesdienst einzustudieren. Leider ließen jedoch Repertoire und Virtuosität inzwischen spürbar nach, was wohl auch am beinahe dreistelligen Durchschnittsalter der Choristen lag. Ebenfalls dem Engagement von Friedhild Kubernagel war es zu verdanken, dass jede Woche ein halbes Dutzend Kinder beim Flötenkreis musizierten. Allerdings ist mit dieser Aufzählung die musikalische Vielfalt an Ma-Mau-Sel (so die offizielle Kurzform für die Schwesterngemeinde Martin-Mauritius-Selbdritt) in vollem Umfang beschrieben. Deshalb waren die Stellvertreter vom lieben Gott bereits drauf und dran gewesen, die Stelle des Kantors für Ma-Mau-Sel nun endlich vollständig und ein für alle Mal zu streichen. Ohnehin war es derweil nur noch eine Teilzeitstelle als B-Kantor. Maestro Carl hub das nicht an. Ganz im Gegenteil sagte er mit Blick auf seinen letzten Arbeitsplatz sogar: "Wer A sagt, muss auch B sagen." Der Urgroßcousine, Pfarrer Schmidt und dem Maestro gebühren also allerhöchstes Lob. Ihnen allein ist es zu verdanken, dass Ziggerau reichlich 2000 Jahre nach der Geburt des Herrn nicht endgültig in der kirchenmusikalischen Bedeutungslosigkeit versunken ist. Maestro Carl wurde nicht nur als Kantor der Kirche willkommen geheißen, sondern auch als Wohltäter und Retter in höchster Not.
„Längst könnte dieser Mann, der in vierzehn Tagen im Petersdom in Rom zu hören sein wird, Allüren haben, sich in irgendwelche Attitüden verrennen. Aber nein,