Ziggerau. Cristina Zehrfeld

Ziggerau - Cristina Zehrfeld


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Höhe

      Es ist ein großes Glück und geradezu eine Auszeichnung für jeden integren Kirchenmusiker, wenn er sein eigenes, kleines privates Domizil im Herzen seiner Kirchgemeinde aufschlagen darf. Maestro Carl hat diesen unschätzbaren Vorteil zwölf lange Jahre mit allen Sinnen genossen, denn auf der Insel hatte er schräg vis-a-vis des Pfarramtes und in idealer Rufweite des Pfarrers residiert. Es schien daher allen ganz selbstverständlich, dass der Maestro die ihm zustehende Kantorenwohnung in Ziggerau beziehen würde. Wo auch sonst sollte er Logis beziehen, wenn nicht im behaglichen Nest direkt über dem Gemeindesaal in der backsteinernen Jugendstilvilla inmitten des lauschigen Parks, dessen lichtdurchflutete Pracht nichts zu verdunkeln vermochte, außer vielleicht der bombastische Jugendstilschatten der prachtvollen Jugendstil-Kirche, welcher sich selbst im Hochsommer pünktlich um 15 Uhr auf die Kantorenwohnung legte. Das Erstaunen war entsprechend groß, als der neue Kantor den ihm dargebotenen Luxus in Ziggerau entgegen jeder Vernunft ausgeschlagen hat. Wie es nun einmal in der Natur der Menschen liegt, wurden von einigen Leuten die absurdesten Gerüchte über die Gründe dieser Verweigerung gestreut. Man munkelte, dass dem Maestro Ziggerau nicht gut genug sei, dass er unbeobachtet sein wolle, weil er ein ausschweifendes Privatleben führt, dass er eine Herzensdame in Schneehöh habe, dass er den Ort wegen des Zeiss-Planetariums ausgewählt habe, dass sein Lebenswandel den hohen Ansprüchen kirchlicher Moral nicht entspreche und sogar, dass er befürchte, ohne diesen räumlichen Abstand rund um die Uhr vom Pfarrer und der Gemeinde in Beschlag genommen zu werden. Das alles ist natürlich kompletter Unfug. Die Erklärung ist vielmehr ganz einfach und unspektakulär: Einzig aus medizinischer Notwendigkeit und also aus reiner Vernunft hat sich Maestro Carl eine Wohnung im 20 Kilometer von Ziggerau entfernten Schneehöh gesucht. Schneehöh liegt nämlich 200 Meter höher als Ziggerau, und es war Maestro Carl nur allzu bewusst, dass nach 14 Jahren Leben auf einer Höhe von lediglich 97 Zentimetern über dem Meeresspiegel etwas Höhenluft aus ganzheitlich-medizinischer Sicht dringend geboten war.

       "Es ist gut, im Alter in die Höhe zu ziehen. Ich kann hier wesentlich besser schlafen."

       (Zitat Matthias Eisenberg in einem Artikel von Annett Honscha, Freie Presse, 8. Februar 2005)

      Der Kinderchor

      Die Betreuung des musikalischen Nachwuchses gehört zu den vornehmsten Aufgaben eines jeden bodenständigen Kantors. Nachdem dieses Ressort in Ziggerau wegen Ermangelung eines Kirchenmusikers lange Jahre vernachlässigt worden war, hatte Maestro Carl naturgemäß nichts Eiligeres zu tun, als in seinen Gemeinden einen Kinderchor ins Leben zu rufen. Mit großem Eifer wurde um kleine Sänger geworben, und tatsächlich kamen schon bald rund zwei Dutzend vielversprechende Kinder im Grundschulalter zu den Proben. Sehr gern hätte der Maestro nun die Lieder seiner eigenen Kinderchorzeit einstudiert. Doch mit Vokalstücken wie "Fangt euer Tagwerk fröhlich an" oder "Unsterblich duften die Linden" waren die Jungkünstler noch überfordert. Besonders wurmte den Maestro, dass Zahl und Qualität seiner Sängerschar nicht geeignet waren, um das Werk "Wie liegt die Stadt so wüst" zu erarbeiten. Dabei hätte Maestro Carl es gleichermaßen passend wie wünschenswert gefunden, diese aufrüttelnde Musik in Ziggerau aufzuführen. Nun, es sollte nicht sein. Und so begnügte er sich zunächst mit einfachen Melodien wie "Bruder Jakob", "C-A-F-F-E-E" und "Es tönen die Lieder". Der Kinderchor war dennoch schon bald auf dem besten Weg, zu einem über die Stadtgrenzen hinaus anerkannten Ensemble zu reifen. Da sah sich der Maestro unerwartet und jäh in seinen Bemühungen zurückgeworfen: Wegen der Ferien hatte der Chor einige Wochen pausiert. Das war an sich schon schlimm genug. Aber zur ersten Probe des neuen Schulhalbjahres ist ohne ersichtlichen Grund kein einziger der Nachwuchschoristen erschienen. Während Maestro Carl vergebens wartete, summte er leise die Melodie von "Heut ist ein wunderschöner Tag" vor sich hin. Vermutlich hatte er dieses schöne Lied neu ins Repertoire des Chores aufnehmen wollen. Dazu allerdings ist es wegen des gemeinschaftlichen Schwänzens der Choristen nicht gekommen. Pfarrer Schmidt wollte noch retten, was zu retten ist. Er hat sich deshalb erboten, bei den Familien sämtlicher Choristen persönlich anzurufen und nachzufragen. Diese hervorragende Idee musste man am Ende aber wegen ihrer Undurchführbarkeit aufgeben: Maestro Carl hatte vergessen, sich die Telefonnummern seiner Eleven geben zu lassen.

       "Eisenberg ist so eine Art Gegenmodell zu seinen Kantoren-Kollegen in der Provinz. Ihm geht es um die Professionalität, um die innere und ästhetische Bedeutung der Musik."

       (Axel Brüggemann, Hörzu, 12/2006)

      Das letzte Hemd

      Als Kantor von Ma-Mau-Sel hatte Maestro Carl das unschätzbare Glück, dass ihm gleich drei wunderbare Kirchen zur Verfügung standen. Damit lag jedoch auch die Last auf seinen Schultern, für das Wohl und Wehe von drei Orgeln verantwortlich zu sein. Naturgemäß war das eine sehr schwere Last, denn wie allgemein üblich waren die Orgeln vom wünschenswerten Zustand der Perfektion denkbar weit entfernt. Besonders bedenklich war der Zustand in der Mauritiuskirche. Deshalb hat sich Maestro Carl sofort nach seinem Amtsantritt ins Benehmen gesetzt, um deren einzigartiger Jehmlich-Orgel unverzüglich zu altem Glanz zu verhelfen. Es galt, wenigstens drei nicht funktionierende Zungenstimmen wieder spielbar und zwei völlig darniederliegende Register wieder gangbar zu machen. Obwohl der Maestro sich für diese Arbeiten in weiser Voraussicht bereits einen schmächtigen Orgelbauer ausgesucht hatte, musste er bald erkennen, dass die erforderlichen Arbeiten das Ausmaß der Geringfügigkeit gewaltig überschreiten würden. Der Orgelbauer stellte erbarmungslos fest, dass es erforderlich sei, für einen besseren Zugang zur Orgel zunächst zwei zusätzliche Türen einzubauen und eine Aluminiumleiter anzuschaffen. Der Orgelbauer begründete die Notwendigkeit damit, dass er die C-Pedallade augenblicklich ausschließlich nach einer einwöchigen Fastenkur und unter der Gefahr, Orgelteile zu beschädigen, erreichen könne. Für einen ausgewiesenen Barock-Organisten wie Maestro Carl war es mithin von vornherein völlig ausgeschlossen, die Innereien der Orgel zu Sankt Mauritius jemals zu Gesicht zu bekommen. Der Maestro konnte gar nicht anders, als dem Fachmann zuzustimmen, denn selbstverständlich wollte auch er selbst seine Orgeln regelmäßig und gründlich inspizieren. Trotzdem, und das muss man Maestro Carl unbedingt zugute halten, forderte er keineswegs den Bau einer komplett neuen Orgel. Doch die Genügsamkeit hat sich nicht bezahlt gemacht. Maestro Carl hat vergebens darauf gewartet und darum gekämpft, dass die Orgel in einen gottgefälligen Zustand versetzt wird. Schließlich hat er den generösen Vorschlag unterbreitet, dass er seine eigene Orgel von zu Hause mitbringt und dauerhaft für Mauritius zur Verfügung stellt. Er wollte also der Kirche sein höchstprivates Heiligtum, ja sprichwörtlich sein letztes Hemd als Dauerleihgabe überlassen. Allerdings verbietet ein jahrhundertealter Ehrenkodex in Mauritius die Annahme letzter Hemden, insbesondere wenn es sich dabei um elektronische, also de facto gotteslästerliche Hemden handelt. Deshalb wurde das großherzige Angebot des Maestros rigoros ausgeschlagen.

       „Die Digitalorgel stellt, so bemerkte auch Eisenberg, ein hervorragendes Übungsinstrument vor allem für die romantische Orgelliteratur dar, die daher, im Gegensatz zu gewöhnlichen Übungsorgeln, adäquat spielbar ist.“

       (Stefan Hanheide, Musik und Bildung, Heft 2/87 – zur neuen digitalen Konzertorgel der Universität Osnabrück)

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