Der Mörder Ihrer Majestät. Martin Cordemann
alles.
Warum sagte ich mir dann ständig, dass das der Stoff war, aus dem man Science Fiction Geschichten machte, Geschichten, die ich in meiner Kindheit gelesen hatte. Warum hatte ich eine Kindheit gehabt, wenn man mich gerade erst erschaffen hatte?
Ich seufzte. Je mehr ich mich mit diesen phantastischen Geschichten befasste, umso ruhiger wurde ich. Das war alles so unrealistisch, so weit her geholt, dass mich der bloße Gedanke daran beruhigte. Das gab es nicht. Das hatte man sich nur ausgedacht. Das war keine Wirklichkeit. Würde es vielleicht niemals werden. Es waren Geschichten. Es waren… Zukunftsgeschichten.
Wieder ein Ansatzpunkt für eine Attacke. Ich atmete durch.
Die Zukunft. Offenbar hatte ich in meiner Kindheit, an die ich mich selbst nicht erinnern konnte, viel zu viele von diesen Geschichten gelesen und nun lief meine Phantasie Amok und präsentierte mir ein unwahrscheinliches Szenario nach dem anderen. Also die Zukunft, liebe Phantasie, was hast du mir zu der Zukunft zu erzählen und warum ist das ein Wort, das sich gerade darauf hinentwickelt, ein neuer Auslöser zu werden?
Weil die Zukunft Dinge möglich macht!
Was sollte das bedeuten, die Zukunft macht Dinge möglich? Dinge, die in meiner Kindheit… Science Fiction waren. Und unmöglich. Aber was, danke, Phantasie für deine aufdringliche Einmischung, wenn ich mich nicht mehr in meiner Zeit befand sondern in der Zukunft? Wenn ich einen Unfall gehabt und man mich auf irgendeine Weise haltbar gemacht und erst in der Zukunft wieder „aufgetaut“ hatte? Dann konnte all das Wirklichkeit geworden sein, dass man… meinen Geist in einen Roboterkörper ohne Vergangenheit gesteckt hatte.
Ein lautes Lachen hallte durch mein Zimmer, mein Lachen!
Das war nicht nur zu lächerlich, es hatte mich auch aus meiner Lähmung befreit. Und von meinen Angstzuständen. Ich lachte, bis ich vor Lachen keine Luft mehr bekam – ein gutes Zeichen. Fand ich jedenfalls. Der Mann in Weiß schien anderer Ansicht zu sein.
„Soll ich Ihnen ein Beruhigungsmittel geben?“ fragte er unsicher. Es schien nicht so oft vorzukommen, dass hier jemand laut auflachte, besonders niemand, der unter Panikattacken litt. Das schien ein sehr widersprüchliches Bild von mir aufzubauen.
Ich versuchte, den Kopf zu schütteln, aber es gelang mir nicht. Auch sprechen war nicht möglich. Ich machte Geräusche, in der Hoffnung, dass sie beruhigend auf ihn wirkten. Ich beruhigte ihn?! Das war mehr als seltsam. Aber er schien zu verstehen und nickte mir zu.
„Ich sage dem Oberarzt bescheid, der wird sich freuen. Sie sind auf dem besten Weg.“ Dann war er wieder verschwunden.
Und ich war allein.
Mit meinen Gedanken.
Aber ohne meinen Namen.
Oder meine Vergangenheit.
Ohne zu wissen, wer ich war.
Aber immerhin hatte ich etwas herausgefunden. Etwas starkes, bedeutendes: Ein Mittel gegen meine Angstzustände. Wann immer sich meine Kehle zuschnürte musste ich mir nur die abstrusesten Ideen ins Gedächtnis rufen und dann würde das Lachen mich retten. Jedenfalls hoffte ich das!
Mein Traum wurde unterbrochen. Oder war es ein Traum, der die Wirklichkeit unterbrach? Ich wusste es nicht. Vor mir standen drei Männer, ihre Gesichter hingen in der Luft, sahen auf mich hinunter.
„Ist er das?“
„Das ist er.“
„Ganz sicher?“
„Wir haben einen Abgleich gemacht.“
„Es gibt keinen Zweifel.“
„Er ist es.“
„Dann haben wir ihn wieder.“
„Ja.“
„Bereiten Sie ihn vor.“
„Sollen wir wirklich?“
„Aber natürlich.“
„Ist das nicht…“
„Es ist das Mindeste, was wir für ihn tun können.“
„Hat er all das wirklich getan?“
„Das hat er.“
„Dann… sollten wir fortfahren.“
„Machen Sie sich immer klar, dass er diese Behandlung verdient hat.“
„Jawohl.“
Die Gesichter verschwanden im Dunst und die Angst schlich sich an mich heran. Was wollte man mit mir tun? Was hatte ich getan? War ich vielleicht ein Mörder? Ein Attentäter? Ein Feind des Staates? Hatte ich grausame Dinge getan und nun hatte man mich gefasst? Wartete ich hier auf meine Hinrichtung? Versorgte man mich vorher medizinisch, damit ich die Hinrichtung auch so richtig wahrnehmen konnte? Was hatte man mit mir vor? Was hatte ich getan? Das Lachen war verschwunden, die Angst war wieder da… das Beruhigungsmittel tat seine Wirkung.
Als ich aufwachte, war der Traum verschwunden. Leiser Donner drang von draußen herein. Ein Gewitter, vermutlich.
„Das sind nur die Bomben“, sagte eine Stimme aus der Dunkelheit. „Sie müssen sich keine Sorgen machen, all das ist weit entfernt.“
Ich musste mir keine Sorgen machen… aber ich machte mir welche. Weil ich nicht wusste, wer ich war und was ich getan hatte.
„Alles wird gut werden“, sagte die Stimme. „Wir werden Sie heilen. Sie werden noch ein langes Leben haben.“
Ein langes Leben? Also keine Hinrichtung im Morgengrauen? War ich kein Mörder, der seine gerechte Strafe bekam? Ich wünschte, ich wüsste, wer ich war. Aber vielleicht war ich ja nicht der einzige. Vielleicht wusste niemand hier, wer ich war? Vielleicht war ich an einem Ort gestrandet, an dem niemand mich kannte – und wo mir niemand sagen konnte, wer ich war? Vielleicht würde ich es dann niemals erfahren…
Ich war wieder einmal in einen Dämmerzustand hinabgeglitten. Als ich diesmal aufwachte, sah ich in ein strahlendes Gesicht. Nicht das Gesicht des Mannes in Weiß, ein anderes Gesicht – und es schien sich zu freuen, mich zu sehen.
„Dich kann wirklich nichts umbringen, oder?“ fragte es grinsend. Ich versuchte zu antworten, aber das Gesicht winkte ab. „Ich weiß, du kannst noch nicht sprechen, das wird wohl noch ein paar Tage dauern.“
Endlich einmal eine Diagnose. Er sah aber nicht so aus, als wäre er Arzt, also wusste ich nicht, wie viel ich auf sein Wort geben konnte. Er verhielt sich auch nicht wie ein Arzt, eher wie ein… Freund. Er schien den fragenden Ausdruck auf meinem Gesicht zu bemerken.
„Du weißt doch, wer ich bin, oder?“
Mein Gesichtsausdruck verriet ihm, dass dem nicht so war.
„Oh meine Güte… kannst du dich an irgendwas erinnern?“
Ich wollte den Kopf schütteln, aber wieder musste mein verneinender Gesichtsausdruck ausreichen.
„Damit hatte ich nicht gerechnet, Junge“, sagte das lächelnde Gesicht nun. „Sicher, ich wusste, dass es dich schwer erwischt hat, aber das…“ Er zuckte die Schultern. „Aber wenigstens bist du noch am Leben, was?“ Er wollte mir auf die Schulter klopfen, wie zur Aufmunterung, aber der Mann in Weiß oder ein anderer Mann in Weiß hielt ihn zurück. Es war schwer zu erkennen, die weiße Figur befand sich ganz am Rand meines Blickfelds. Und ich konnte den Kopf nicht bewegen, um mein Gesichtsfeld zu erweitern. „Ruh dich gut aus“, sagte das lächelnde Gesicht. „Die sorgen hier gut für dich. Und in ein paar Wochen bist du wieder auf den Beinen.“
Ich war mir ziemlich sicher, dass das gelogen war. Auch, wenn ich nicht wusste, wer ich war, ich hatte so einen Instinkt dafür, wenn man mir etwas vormachte.
„Sie sollten jetzt vielleicht lieber…“ sagte eine Stimme außerhalb des Blickfelds.
„Ja, Sie haben wahrscheinlich recht. Ich wollte nur mal sehen, ob es wirklich stimmt.“