Der Mörder Ihrer Majestät. Martin Cordemann
dann. Nur seine Stimme blieb mir noch einen Moment, während sie sich langsam entfernte: „Sorgen Sie dafür, dass er sich schnell erholt. Tun Sie alles für ihn. Er hat es verdient. Er ist der Held der…“ Die Tür hatte sich geschlossen und die Worte waren zu undeutlich geworden.
Ich seufzte, eins der wenigen Dinge, die ich tun konnte. Seufzen und lachen. Nach Lachen war mir im Moment nicht zumute. Obwohl es das vielleicht sein sollte. Denn wenn ich auch nicht wusste, wer ich war, so gab es offensichtlich jemanden, der das tat. Einen Freund. Meinen Freund! Ein freundliches, lachendes Gesicht, das mich als… als Helden bezeichnet hatte.
Das gab mir ein wenig zu denken. Eigentlich war das etwas, worauf man stolz sein sollte. Ich war ein Held. Möglicherweise hatte ich großes vollbracht. Ich wusste es nicht. Ich wusste nicht, warum man mich als Held bezeichnen sollte.
Oder hatte es mit dem Grund zu tun, warum ich hier war? Stand meine Heldentat, wenn ich denn eine vollbracht hatte, in direktem Zusammenhang damit? Hatte ich mir meine Verletzungen dabei zugezogen? Oder war ich schon vorher ein Held gewesen und das hier hatte ich mir bei einem gewöhnlichen Haushaltsunfall zugezogen?
Ich wusste nicht, welche Geschichte ich bevorzugen sollte? Die, dass mich meine Heldentaten in diese Situation gebracht hatten. Oder die, dass ich ein großer Held war, der dann in seiner Freizeit gestrauchelt war, bei irgendeiner sportlichen Tätigkeit oder dergleichen. Möglich war beides – oder nichts davon.
Ich atmete tief durch!
Es war äußerst deprimierend, wenn einem die eigene Geschichte fremd war. Wenn man nicht die geringste Ahnung hatte, warum die Leute einen behandelten, wie sie einen behandelten.
Der Mann in Weiß erschien. Ich hatte ihn nicht hereinkommen hören, meine Gedanken hatten mich abgelenkt. Vielleicht war ich deshalb hier, weil mich meine Gedanken abgelenkt hatten, während ich etwas Wichtiges hätte tun sollen und dann hatte ich nicht aufgepasst und der Unfall oder was auch immer war geschehen. Hatte es sich so abgespielt?
„Sie sind auf dem richtigen Weg“, sagte der Mann in Weiß, doch langsam schien das wie eine Floskel zu wirken. Ich war auf dem richtigen Weg, alles würde besser, bald war alles wieder gut. Glaubte man selbst daran, wenn man es nur oft genug hörte? Ja, würde es wahr werden, nur weil man es oft genug hörte? Das wäre ein riesiger Fortschritt für die Medizin gewesen. Wenn man sich wirklich nur noch einreden musste, dass man gesund würde, dann würde man sich viele schwierige Operationen ersparen können. „Es ist wichtig, dass Sie auch selbst daran glauben.“ Da hatten wir es, das Eingeständnis der Medizin, dass sie sich überlebt hatte und nun die Selbstregeneration regierte – solange man nur daran glaubte. „Sie haben großes geleistet!“ Aber was? Was hatte ich geleistet? „Sie sind ein wahrer Held!“ Warum? Wofür? Wie hieß ich?
Der Mann in Weiß verschwand und ließ die Wand in Weiß zurück. Sie war das einzige, was mir Gesellschaft leistete. Sie und das bleiche Fenster. Es schien ein trüber Tag zu sein. Oder war es Nacht, und was das Fenster erleuchtete, waren die Laternen? Gab es hier Laternen? Wo war dieses Krankenhaus? Wo war ich? Wer war ich? Was…
„Es ist leider unumgänglich, Ihnen Beruhigungsmittel zu verabreichen“, hörte ich eine Stimme sagen und öffnete vorsichtig die Augen. Ein neuer Mann in Weiß stand vor mir, möglicherweise der Arzt. „Es sieht so aus, als hätten Sie noch immer hin und wieder Angstattacken“, sagte er. „Um sicher zu gehen, dass Ihnen nichts passiert, leiten wir dann Beruhigungsmittel in Ihr System. Wir wollen, dass Sie bald genesen. Sie sind uns sehr wichtig.“
Ich versuchte, etwas zu sagen, doch es kam nur unverständliches Gekrächze aus meinem Mund.
„Es ist ein gutes Zeichen, dass Sie versuchen, zu sprechen“, meinte der Arzt, „aber im Moment sind Sie noch zu geschwächt dafür. Aber versuchen Sie es weiter, es ist wichtig, dass Sie nicht aufgeben.“
Es war immer wichtig, dass man nicht aufgab. Aufgeben war etwas für Schwächlinge! Wer aufgab, konnte sich direkt selbst aufgeben.
„Sie haben… woran können Sie sich erinnern?“
Ohne, dass ich dafür etwas tun musste, wurde mein Gesicht eine verzweifelte Masse.
„Sie haben also Schwierigkeiten, sich zu erinnern?“
Die Verzweiflung blieb.
„Wissen Sie, wo Sie sich hier befinden?“
Leeres Gesicht.
„Wissen Sie, warum Sie hier sind?“
Leeres Gesicht.
„Wissen Sie, wer ich bin?“
Leeres Gesicht.
„Wissen Sie, wer Ihr Freund ist?“
Leeres Gesicht.
„Wissen Sie… wer Sie sind?“
Die Verzweiflung kehrte in meine Augen zurück. Der Arzt erkannte sie.
„Sie wissen also nicht einmal, wie Sie heißen?“
Noch mehr Verzweiflung.
„Das tut mir so leid“, sagte er leise. „Ich, ich hoffe, dass wir etwas dagegen tun können. Wir können fast alles heilen, wissen Sie, aber das…“ Er seufzte und innerlich tat ich es ihm nach. „Wir werden alles in unserer Macht stehende tun, damit Sie wieder der werden, der Sie waren, bevor…. bevor das hier passiert ist.“
Er nickte mir noch einmal tröstend zu, dann war er verschwunden. Ich hörte die Tür ins Schloss fallen. Ich war allein. Mit mir. Mit jemandem, den ich nicht kannte. Über den ich nichts wusste. Den ich aber auch nicht fragen, nicht kennenlernen konnte. Die einzigen Menschen, die mir hätten sagen können, wer ich war, waren gegangen. Sie hofften, dass meine Erinnerung zurückkommen würde. Ich hoffte es auch. Es war furchtbar, in Ungewissheit zu leben. In der Ungewissheit, wer ich war.
Dunkle Gedanken füllten meine Träume. Sie warfen ihre langen Wurzeln aus und rankten sich hinüber bis in den Tag. Ich hatte das Gefühl… es war nicht wirklich eine Erinnerung, die zurückgekehrt war, es war eher ein ungutes Gefühl. Das ungute Gefühl, dass dort draußen vielleicht nicht alles so weiß und hell war, wie in meinem Krankenzimmer.
Irgendetwas Dunkles, Beklemmendes schnürte mir die Kehle zu. Hatten wir Krieg? Ja, da war… eins der Gesichter hatte so etwas gesagt. Nicht das Wort Krieg, aber etwas über Bomben. Die Gewitter. Es hatte mehrere gegeben, seit ich das erste Mal wach geworden war. Erst hatte ich dem keine Bedeutung beigemessen, doch inzwischen hatte ein Gefühl der Beklemmung von mir Besitz ergriffen. Die Welt war anders, anders als sie sein sollte. Sie war düster und grausam und blutig und böse. Oder bildete ich mir das vielleicht nur ein? War das alles nur ein schlechter Traum, der jetzt versuchte, mein Denken zu beeinflussen? Ich wusste es nicht. Aber ich hatte ein ungutes Gefühl.
Die Sonne schien, die Gewitter waren verstummt, mein großer Zeh juckte. Das waren gute Neuigkeiten. Ich war auf dem Weg der Genesung. Nur noch ein paar Wochen oder Monate und ich konnte wieder dort hinaus und… tun, was immer ich früher getan hatte.
Es war müßig, sich Gedanken darüber zu machen, was mein Beruf gewesen war. Und ich war mir ziemlich sicher, dass ich ihn nun nicht mehr würde ausüben können. Wenn ich wieder laufen lernte, war das ein Wunder. Das Atmen fiel mir inzwischen leicht und ich hatte schon lange keine Panikattacke mehr gehabt. Nach und nach kehrte auch das Gefühl in meine Beine und Arme zurück. Nur die Erinnerung, die blieb nach wie vor verschüttet.
Hatte ich einen Beruf gehabt, bei dem ich auf meine Erinnerung angewiesen war? War ich Pilot? Oder Arzt? Nun, dann konnte ich mich wohl bald nach einem neuen Betätigungsfeld umsehen.
Ich sah auf das Fenster. Es war nicht durchsichtig, aber warme, orangene Sonnenstrahlen fanden trotzdem ihren Weg hindurch und zu mir. Fenster, Arm, Sonne, für alles gab es einen Namen. Nur für mich gab es keinen.
Doch, es gab einen. Aber man hatte ihn mir noch nicht gesagt. Nicht, dass das einen Unterschied gemacht hätte. Ich hatte vieles vergessen, selbst den Namen meines „Freundes“, der sich so gefreut hatte, mich lebendig