Dämonentreue. Dagny Kraas
Cridan hängte den Bogen und den Köcher mit den Pfeilen an ihren Platz an die Wand – so wenig er auch sonst auf Ordnung achtete, so wichtig war sie ihm bei seinen Waffen – und aß ein wenig von dem Eintopf, dann ließ er sich aufs Bett sinken, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und sah durch die offene Tür nach draußen in die Dämmerung. Die Luft wurde allmählich kühler, und das feine Sirren der Mücken leiser. Wieder einmal war Cridan froh, dass die kleinen Stechtiere an T'han T'hau keinen Gefallen fanden.
Er döste bereits ein, als sich rasche Schritte näherten und ihn aufschreckten. Einen Moment später betrat Tiko die Hütte. Sein Begleiter Dorach'tar, gleichermaßen formal Tikos Leibwächter wie Cridan dessen ficha'thar, obgleich ihr König keines von beidem brauchte, blieb vor der Tür stehen.
Tiko war so groß, wie es sein Vater Skatarhak einst gewesen war, und ebenso breitschultrig. Die Schuppen auf seinem starken Körper hatten die Farbe von purem Gold und schimmerten selbst in diesem diffusen Licht noch.
»Ach, verflucht, Cridan«, murmelte Tiko, »wieso lebst du schon wieder im Dunkeln?«
»Damit ich das Elend nicht sehen muss«, gab Cridan nur halb scherzhaft zurück, erhob sich jedoch und grub in der Asche der Feuerschale, bis er den letzten Rest Glut fand und daran ein Talglicht entzündete.
Tiko brummte unwillig.
»Nimm eine richtige Kerze. Du wirst Licht brauchen.«
Cridan hob fragend die Brauen, gehorchte jedoch schweigend.
Tiko bedeutete ihm, sich zu setzen, nahm ihm gegenüber Platz und schob ihm über die Tischplatte ein gefaltetes Stück Papier zu. Cridan nahm es in die Hand und betrachtete es.
Es war faltig und zerknittert, die Ränder angestoßen und schmutzig. Die Oberfläche war spröde, als wäre sie mit Wasser in Berührung gekommen.
Er schnupperte daran. Ein feiner Geruch nach Moder, Salz und Meer haftete an dem Papier und rief Erinnerungen in ihm wach. Hastig legte er es wieder auf den Tisch.
Tiko machte eine ungeduldige Geste: »Nun lies schon!«
Cridan wusste selbst nicht, weshalb, aber er zögerte, das Papier zu entfalten. Nur langsam, Stück für Stück, öffnete er es.
Es war eine Nachricht. Die Schrift war steil, die Buchstaben sorgfältig, ein Siegel zierte die untere rechte Ecke.
Und dann traf es Cridan wie ein Schlag: Die Worte waren in der Sprache der T'han T'hau! In Alt-Gantuigh!
Er hielt die Botschaft näher an die zuckende Kerzenflamme und begann zu lesen.
Er las es einmal, zweimal, dreimal. Dann legte er das Papier hin, stand auf, holte aus einer Kiste unter dem Bett einen irdenen Krug hervor, der mit einem Holzstopfen verschlossen war, und öffnete ihn.
Er setzte den Krug an die Lippen und trank einen großen Schluck.
Beinahe sofort spürte er die Wirkung – und das war auch dringend notwendig: Das erste Mal in seinem Leben zitterten seine Hände.
»Ist das echt?« fragte er schließlich. Das Sprechen bereitete ihm Mühe.
Tiko hob die Schultern.
»Das frage ich dich.«
Cridan stellte den Krug auf den Tisch, setzte sich wieder und nahm das Papier erneut in die Hand, um es genauer zu betrachten. Er kannte weder die Schrift noch das Siegel, und auch der noch in Spuren vorhandene Geruch unterschiedlicher Personen, der daran haftete, war ihm unbekannt.
»Woher hast du das?«
Tiko lächelte. »Du wirst es mir kaum glauben, aber ein Bote hat diesen Brief gebracht.«
Cridan starrte ihn an. Er fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen.
»Ein Bote?«
»Ein Bote«, nickte Tiko. »Er will, dass wir mit ihm gehen. Murth Gantor passt auf ihn auf. Er sitzt in meiner Hütte und wartet darauf, dass du mit ihm sprichst. Jedenfalls ging ich davon aus, dass du das willst.«
»Worauf du Gift nehmen kannst«, murmelte Cridan.
Er drehte das Papier in den Händen, besah es von allen Seiten und dachte dabei fieberhaft nach.
»Warum sollte es nicht echt sein?« stellte er schließlich fest. »Ich kann es dir nicht beweisen, aber mein Gefühl sagt mir, es ist echt. So viele Kleinigkeiten, so viel, was man ohne deinen Brief damals nicht wissen könnte… und nicht zuletzt die Sprache! Ich bitte dich, Tiko, kennst du einen Menschen, der Alt-Gantuigh beherrscht?«
Tiko hob den Kopf.
»Vor einer halben Stunde habe ich den ersten kennengelernt.«
Cridan blickte abwechselnd ihn und den Brief in seinen Händen an.
»Ich will mit ihm sprechen«, verlangte er dann.
Tiko nickte, stand auf und zögerte noch einmal. Er warf einen Blick auf den Krug und meinte: »Ich bin verwundert, dass dir ein Schluck gereicht hat. Ich habe einen halben Krug gebraucht.«
»Eins sage ich dir«, brummte Cridan und trat an ihm vorbei ins Freie, wo Dorach'tar weiterhin auf sie wartete. »Wenn dieser Brief hier tatsächlich echt ist, wird es mehr als einen halben Krug brauchen.«
Der Mann, der in Tikos Hütte saß, bewacht von Tikos zweitem Leibwächter Murth Gantor und dem Schmied Fejtar, machte einen unscheinbaren Eindruck: Seine dunklen, an den Schläfen schon ergrauten Haare waren im Nacken zusammengebunden, und sein Gesicht hätte das eines beliebigen Mannes auf der Straße sein können.
Als Tiko und Cridan eintraten, erhob er sich und deutete eine Verneigung an.
Cridan zog einen Stuhl heran, setzte sich und sah den Mann an. Ohne Umschweife begann er das Gespräch:
»Wer seid Ihr, woher kommt Ihr, und weshalb bringt Ihr eine solche Botschaft?«
Der Mann lächelte, nahm wieder Platz und antwortete in bestem Alt-Gantuigh: »Eure Fragen sind verständlich. Sureth meinte schon, dass Ihr misstrauisch sein würdet. Kein Wunder, wenn man es recht bedenkt. Euer Brief an Skatarhak muss einige Jahre alt sein.«
»Der erste mehr als ein Jahrzehnt«, erwiderte Cridan beinahe mechanisch. »Beantwortet meine Fragen.«
»Mein Name ist Mert«, antwortete der Mann bereitwillig. »Ich bin im Auftrag von Sureth hier, und der wiederum ist Euer Freund.«
»Ich nenne keinen Mann meinen Freund, den ich nicht kenne«, bemerkte Cridan eisig.
»Du nennst auch keinen Mann deinen Freund, den du kennst«, warf Tiko trocken ein. »Lassen wir das also beiseite. Mert, Ihr habt erst eine von drei Fragen beantwortet.«
»Sureth schickt mich«, fuhr der Bote bereitwillig fort. »Er bittet Euch zurückzukehren. Die Zeit ist gekommen, auf die Ihr gewartet habt.«
Tiko wollte etwas entgegneten, doch Cridan kam ihm zuvor:
»Was ist mit Skatarhak? Wo ist er? Wer ist Sureth, und wie kommt er an Tikos Nachricht? Für mich gibt es hier zu viele lose Enden und viel zu viele offene Fragen.«
Mert lehnte sich zurück, sah ihn an und seufzte.
»Ich sehe schon, ich muss weiter ausholen. Skatarhak ist tot. Er ist gefallen in dem Krieg, den er selbst begonnen hat. Ebenso tot wie jeder T'han T'hau, der noch auf Gantuigh lebte. Es gibt keine T'han T'hau mehr auf Gantuigh, seit Skatarhak den Krieg verlor! Mehr als zehn Jahre ist es her, dass der letzte von ihnen hingerichtet wurde, und niemand hätte geglaubt, dass es überhaupt noch T'han T'hau gibt! Die Erinnerungen an die Schrecken Eurer Taten verblassen allmählich. Und Sureth glaubt, die Zeit ist nun endlich reif für einen Neuanfang. Die Völker Gantuighs dürfen nicht länger getrennt sein, sagt er. Die T'han T'hau gehören nach Gantuigh.«
Cridan hörte seine letzten Worte kaum. Was Mert gesagt hatte, traf ihn wie ein Schlag. Es war das, was er befürchtet hatte, seit er das erste Mal vergeblich auf Antwort aus Gantuigh gehofft hatte.