Ellas Geheimnis. Rose Hardt
anfingen, und wann aus dem charmanten, zuvorkommenden und hilfsbereiten Kavalier ein unnachgiebiger Despot, ein Frauenschläger, schlimmer noch, ein Vergewaltiger wurde? Was war mit ihnen geschehen? Was mit ihrer Ehe? Zusammengekauert saß sie nun auf ihrem Bett und dachte darüber nach. Zuerst waren es nur verbale Angriffe, beiläufig in den Alltag eingestreute Demütigungen, erst im Laufe der Jahre wurde Eugen handgreiflich, mal war es ein festes Knuffen gegen den Oberarm, mal in die Seite, doch immer wieder hatte er sich für sein Fehlverhalten entschuldigt. Einmal, als sie bei einem Handgemenge den Treppenabsatz hinuntergestürzt war und sich dabei das Schienbein brach, kam er unter Tränen und mit einem riesigen Blumenstrauß an, um sich bei ihr zu entschuldigen. Danach hatte sie lange Zeit Ruhe, bis zu jenem letzten gemeinsamen Urlaub im Sommer. In ausgelassener Stimmung hatten sie an der Hotelbar gesessen und mit anderen Hotel-Gästen geplaudert. Ein charmanter Herr hatte ihr im Laufe des Abends, und mit steigendem Alkoholpegel, immer wieder Komplimente gemacht, nichts Anrüchiges, einfach nur nette Worte die ihr schmeichelten, jedoch Eugen zur Raserei brachten. In aller Deutlichkeit sieht sie nun diese Szene vor ihrem geistigen Auge vorüberziehen: sie sieht wie ihr wütender Ehemann auf den angetrunkenen Gast losgeht, ihn vom Hocker zerrt und ihn auffordert sich mit ihm zu prügeln, der Mann lacht aus Verlegenheit und versucht ihn mit Entschuldigungsfloskeln zu besänftigen – leider vergebens. Eugen hatte unvermittelt und zum Entsetzen aller Gäste einfach zugeschlagen, woraufhin der Mann entsetzt seine blutende Nase hielt und fluchtartig die Bar verließ. In jenem Augenblick wurde ihr bewusst, dass Eugen auf nichts mehr reagieren würde, und wenn seine Betriebstemperatur einmal auf Aggression und Streit stand, war es angebracht ihm aus dem Weg zu gehen. In einem unbedachten Moment, gerade als er dabei war seinen Barhocker wieder aufzustellen, nützte sie die Gelegenheit zur Flucht, doch er war schneller und streckte sie zu Boden, anschließend hatte er sie mit üblen Beschimpfungen vor die Tür geschleift – sie spürte noch einen dumpfen Schlag im Gesicht, dann war‘s dunkel. Das erste, was sie danach schemenhaft erkennen konnte, war ein Frauengesicht mit besorgter Miene. Die fremde Frau, die ungewollt Zeugin dieser erniedrigenden Szene wurde, kühlte ihre Schläfen mit Eiswürfel und sagte: „Kleines, wenn ich dir einen guten Rat geben darf, so schick diesen Typen dorthin wo der Pfeffer wächst, solche Männer wie er, werden sich niemals ändern.“
Mein Gott, dachte Marie-Claire kopfschüttelnd, wie recht sie hatte! Und seit dieser Zeit kam es immer wieder zu Handgreiflichkeiten, immer wieder musste sie herhalten, wenn ihm etwas gegen den Strich ging. Gründe gab’s genug, ganz egal ob es ein aufmüpfiger Schüler aus seiner Klasse war, Eltern die seine Lehrmethoden kritisierten, oder Stänkereien im Lehrerkollegium. So auch am Tag zuvor, wo er wieder einmal Luft ablassen musste. Das fing schon damit an wie sie ihren Wagen in der Einfahrt parkte, später zogen sich dann die Nörgeltiraden: Wieso dies? Weshalb jenes? Warum das denn?, querbeet durch den ganzen Tag, und so hielt sie es ganz nach dem japanischen Sprichwort der drei Affen: nichts (Böses) sehen, nichts hören, nichts sagen! So gut wie es eben möglich war, versuchte sie ihm aus dem Weg zu gehen – das Unvermeidliche ließ sich jedoch nicht aufhalten. Während sie im Bad war, hörte sie ihn zähneknirschend fluchen: „Ja ist das denn die Möglichkeit! Ausgerechnet dieser Dumpfbacke! Der denkt wohl, nur weil sein Vater Rechtsanwalt ist, könne er sich alles erlauben ...“ Durch den Türspalt konnte sie erkennen, dass er im Bett seine E-Mails checkte, und so wie sie es interpretierte musste es wohl um eine angestrebte Klage eines Schülers gehen. Oh, sie hasste es, wenn er sein iPad mit ins Bett nahm, er sich solche Hiobsbotschaften reinzog und danach den Choleriker hervorkehrte. Genervt von seinem Geschimpfe war sie in ihr kuscheliges Schlapper-Nachthemd aus grauem Jersey-Stoff geschlüpft, sie zog ihre warmen Wollsocken an und huschte, in der Hoffnung nicht gesehen zu werden, aus dem Bad direkt unter die Bettdecke. Ihr war nach Schlaf und absoluter Ruhe. Leider hatte sie die Rechnung ohne Eugen gemacht. Kurzerhand hatte er ihre Bettdecke zurückgeschlagen und entsetzt das Bild angestarrt das sich ihm präsentierte. Und plötzlich wurde sie – in ihrem weiten altbackenen Großmutterhemdchen – so wie er es abfällig bemerkte, zum Angriffspunkt. Er verhöhnte und demütigte sie, er bombardierte sie mit Worten die ihr den Atem raubten. Doch dann geschah etwas, was sie niemals für möglich gehalten hätte. Zum ersten Mal während ihrer Ehe war sie über sich hinausgewachsen. Lautstark und in aller Deutlichkeit hatte sie ihm ihre Meinung über sein Verhalten gesagt, sie hatte ihm angedroht ihn zu verlassen, wenn er sich nicht ändern würde – das war’s! Danach hatte er sie im Schlafzimmer eingeschlossen, sie geschlagen, beschimpft und als Höhepunkt seiner Machtdemonstration vergewaltigt.
Die Zeit danach hatte sie in einem Art Schock-Zustand verbracht und erst, als er am frühen Morgen das Haus verlassen hatte, war sie wieder sie selbst.
Und im Gegensatz zu seinen sonstigen Misshandlungen, hatte er sich dieses Mal nicht entschuldigt, auch kein Süßholz als Wiedergutmachung-Taktik geraspelt, sondern er ist wortlos gegangen, auch die Haustür fiel geräuschlos ins Schloss, gerade so, als ob es das Normalste auf der Welt wäre seine Frau zu demütigen, zu schlagen und zu vergewaltigen. Nach dieser Begebenheit hatte sie für einen Augenblick darüber nachgedacht ihn anzuzeigen – doch was sollte sie den Polizeibeamten sagen? Mein Mann, ein Gymnasiallehrer und angesehener Bürger der Stadt, der Hilfsorganisationen leitet, Mitglied im Gemeinderat ist, hat seine eigene Frau geschlagen und anschließend vergewaltigt. Vergiss es, ermahnte sie ihr nüchterner Verstand, sie würde sich selbst nur nochmals erniedrigen, sich der Lächerlichkeit preisgeben und ihrem Mann weitere Angriffsflächen bieten. „Großer Gott“, flehte sie leise, „bitte hilf mir von ihm wegzukommen.“ Nein, ihre Ehe war nur noch eine schöne Fassade mit irreparablen Schäden.
Irgendwann in den frühen Abendstunden hörte sie ihre Mutter in der Küche hantieren, feine spitze Geräusche deuteten darauf hin, dass sie die Geschirrspülmaschine am Ausräumen war. Endlich Abwechslung, dachte Marie-Claire, doch als sie die Küche betrat, war die Arbeit erledigt und einige belegte Brote standen auf dem Tisch.
„Geht es dir wieder besser?“, fragte Marie-Claire.
„Alles im grünen Bereich“, antwortete Ella in ihrer gewohnt schrulligen Art, „eine deutsche Eiche fällt nicht so leicht.“
Mit Blick auf die Brote gerichtet fragte Marie-Claire: „Und du, isst du nichts?“
„Ich hab ein Brot aus der Hand gegessen und dazu ein Bier getrunken. Das reicht.“
„Warst du in letzter Zeit mal beim Arzt und hast dich durchchecken lassen?“
Entsetzt sah ihre Mutter sie an. „Nun übertreib mal nicht, nur weil ich heute nach der Gartenarbeit, bums und alle war, muss ich nicht gleich krank sein“, gab sie barsch zurück.
„Naja, ich meine“, druckste sie, „vielleicht könnte ich dir ja bei der Gartenarbeit oder auch im Haushalt behilflich sein!“
„Du!“, dabei sah Ella ihre Tochter ungläubig an, fasste nach ihren äußerst gepflegten Händen – die noch nie mit einem Spaten oder ähnlichem Gartengerät in Berührung gekommen waren – und sagte: „Lass mal gut sein, solange ich japsen kann, werde ich das selbst erledigen.“ Mit besorgter Miene sagte sie: „Kümmere du dich mal lieber um deine Ehe und um dein zukünftiges Leben, da hast du vorerst genug zu tun.“
„Ach Ella“, seufzte sie, dabei umarmte und küsste sie ihre Mutter, „auch wenn du so ein grantiges Mütterchen bist, so liebe ich dich dennoch.“
„… iss ja gut“, gab sie verlegen zurück und stieß sie wieder auf Distanz.
Marie-Claire setzte sich an den Tisch, neigte den Kopf leicht zur Seite, sah ihre Mutter lieb an und fragte: „Bleibt es morgen früh dabei? Begleitest du mich?“
„Hab ich je mein Versprechen nicht gehalten?“
Marie-Claire dachte plötzlich an eine Begebenheit aus ihrer Schulzeit, lächelte und sagte: „Erinnerst du dich noch an Carl, den Jungen aus meiner Klasse …?“
Beide sahen zunächst stumm einander an, doch als dann beide die gleiche Szene vor Augen hatten, mussten beide schmunzeln.
Der kleine Carl hatte es darauf angelegt Marie-Claire zu ärgern: mal versteckte er ihre Sportsachen, mal ihre Schulhefte, ein anderes Mal musste ihr Taschengeld dran glauben, doch als er sie eines