Marattha König Zweier Welten Gesamtausgabe. Peter Urban
finanzielle Not, unter der er litt, und dieser sonderbare Gesichtsausdruck hatten Henrietta mehr über das Verhältnis zwischen ihm und seiner Familie erzählt als seine letzten, hasserfüllten Worte. »Und wenn das Schicksal es gut mit dir meint, Arthur, und wenn du in Indien dein Glück machst?«
»Wir werden sehen, Henrietta. Darf ich dir einen Rat geben ...« Er schaute ihr tief in die blauen Augen und hielt ihre kleinen Hände ganz fest.
»Gib mir deinen guten Rat, Arthur, und sei mir nicht böse, weil ich so forsch gewesen bin.« Sie hatte verstanden, dass Wesley seinen Weg gewählt hatte und – aus irgendeinem geheimnisvollen Grund – um nichts in der Welt Zugeständnisse machen konnte.
»Du bist noch so jung und hast ein ganzes Leben vor dir. Du wirst viele nette Menschen kennenlernen. Wähle dir einen, der sein Herz nur dir schenkt und keine so anspruchsvolle Geliebte hat wie die Armee. Lasse mich in zwei Tagen ziehen und behalte die schönen Stunden in Erinnerung, die wir miteinander verbringen durften. Und dann, irgendwann, triffst du deine Entscheidung. Ich werde dich ab und an besuchen, und du kannst dann selbst sehen, ob du wirklich irgendetwas für mich empfindest. Gib dir selbst Zeit und gib mir Zeit. Wenn es das Schicksal gut mit mir meint und ich mein Glück in Indien mache, dann kommt vielleicht der Tag, an dem ich dir diese schwerwiegende Frage stellen kann, ohne von deinem Vater wie ein räudiger Hund aus dem Haus gejagt zu werden.«
»Arthur, Papa würde dich nicht ...«
»O doch, Henrietta! Er würde! Er liebt sein Kind und will nur dein Bestes. Er wird deine Hand nicht an einen unbedeutenden, mittellosen Oberst wegwerfen, der noch nicht einmal einen Titel führt, und der dir auf irgendeinem abgelegenen Außenposten im Dschungel ein Leben bietet, das nicht viel besser ist als das der einfachen Soldatenfrauen ...«
Kapitel 3 Geheimnisvolles Indien
Der Hoogley war breit und schmutzigbraun. Die Befestigungsanlagen aus grauem Granit, die von den Briten am östlichen Ufer des Flusses erst vor wenigen Jahren fertiggestellt worden waren, hoben sich scharf von den grünen und weißen Tönen ab, die die Stadt Kalkutta beherrschten. Zahllose Handelsschiffe der Ostindischen Kompanie lagen in einem riesigen Hafenbecken vor Anker. Sie waren Kriegsschiffen nicht unähnlich, nur um vieles größer und beeindruckender. Die Fregatten der Royal Navy, die zwischen ihnen in der braunen Brühe vor sich hin dümpelten, glichen Spielzeugfähren.
Die Handels- und Kriegsschiffe hatten sonnengebleichte, strahlend weiße Segel, und an den meisten waren während der langen Reise von England nach Indien behelfsmäßige Reparaturarbeiten durchgeführt worden. Diese Schiffe waren – wie die Truppentransporter mit Wesleys 33. Regiment – gerade erst angekommen und hatten Waren, britische Untertanen und Soldaten in die Kolonie gebracht. Die meisten dieser Menschen gingen enthusiastisch und voller Hoffnungen an Land, ganz gleich, aus welcher Gesellschaftsschicht oder Berufsgruppe sie stammten. Geschichten über den unermesslichen Reichtum und die unbegrenzten Möglichkeiten in einem fernen, geheimnisvollen Land hatten sie dazu bewogen, ihrer Heimat den Rücken zu kehren und ein neues Leben zu beginnen. Auch die Männer des 33. Infanterieregiments machten hier keine Ausnahme. Nur Arthur Wesley, der junge Oberst, der ein ganzes Jahr lang vom großen Tag der Ausschiffung in Kalkutta geträumt hatte, fand den geheimnisvollen Osten auf den ersten Blick weniger einladend, als die Literatur in seinen großen Reisetruhen ihn Seite um Seite geschildert hatte.
Er war neun Monate auf See gewesen. Sechs davon auf dem überfüllten Transportschiff Argonaut. Tag für Tag hatte er Bücher verschlungen, die von sagenhaftem Reichtum, märchenhaften Bauwerken, exotischen Tieren und all den Düften des Orients erzählten. Und jetzt, zweihundert Meter von den Landestegen und der neuen Welt entfernt, bot sich ihm – auf den ersten Blick – ein schockierendes Bild. »Gütiger Himmel!« sagte er leise zu sich selbst. »Der märchenhafte Orient stinkt wie eine Latrine.« Seine Augen glitten entsetzt über Hunderte von Bettlern, die den ganzen Kai zu belagern schienen und ihre Hände gierig nach den Neuankömmlingen ausstreckten. Die Fährleute, die sich auf ihren klapprigen Kähnen den Handelsschiffen näherten, sahen nicht viel besser aus als die wilde Horde an Land. In einem absonderlichen Englisch boten sie den Offizieren an, sie mit ihrem Gepäck auszuschiffen.
»Glaubst du nicht, es wäre besser, wir würden schwimmen, Arthur?« erkundigte sich Sir John Sherbrooke zynisch. Er hatte sechs endlos erscheinende Monate lang die Kabine mit seinem Kommandeur geteilt. Für jede leidenschaftliche Ode an die schöne Jemima Smith, die Arthur hatte ertragen müssen, war John ausführlich erläutert worden, welch wunderbares Abenteuer sie alle im zauberhaften Indien erwartete.
»Also, ich hab da was Interessantes gelesen ...«, setzte Wesley an, während er sich von seinem Schock erholte und interessiert eine der Fähren fixierte, die sich der Argonaut mit schneckenhafter Geschwindigkeit näherte. Das Boot ähnelte den länglichen, silbernen Obstschalen, die in England so beliebt waren. Doch anstatt aus stabilem Metall gegossen zu sein, war die Fähre aus hauchdünnen Planken zusammengenagelt. Ihr Deck schien mit hellen Rundhölzern bedeckt, und wenn man genau hinsah, erkannte man schlammiges Wasser im Rumpf. Bei jedem Schlag des großen Ruders am Heck knarrte es besorgniserregend, und der Fährmann schien sein Gleichgewicht nur mit äußerster Anstrengung zu halten, denn die Fähre schlingerte wie ein Stück Seife auf dem Hoogley.
»Von zehn Briten, die in Kalkutta ausschiffen, fahren nur drei wieder lebend nach Hause zurück, und nur einer von fünfundzwanzig fährt mit einem Vermögen in der Tasche wieder heim nach Europa. Was Soldaten anbetrifft, sieht diese verdammte Statistik sogar noch schlechter aus: Wenn dein Regiment mit 850 Mann ausschifft, dann schifft es mit 250 wieder ein, meist unter einem anderen Kommandeur«, unterrichtete er fröhlich seinen Freund Sherbrooke.
»Arthur, hör auf, mir aus deinen Büchern vorzutragen. Ich kenne sie auswendig. Du hast mich seit Kapstadt jeden Abend stundenlang gequält ...«
»Wenn du mir nicht gerade mit Jemima in den Ohren gelegen hast ...« Wesley gab dem schmierigen Fährmann Zeichen. Vielleicht sah ja nur der Hafen von Kalkutta furchterregend aus, und der märchenhafte Orient befand sich irgendwo hinter den Kais. Cork und Portsmouth waren auch nicht gerade die Perlen Albions und Erins, und erst die Themse bei Southwark ... Außerdem war er jung und abenteuerlustig, und er hatte sich nicht nach Indien gemeldet, um sich in einer Welt wiederzufinden, die Covent Garden im Herzen Londons glich. Das bunte und laute Treiben im Hafen machte ihn neugierig. »Los, John! Vergiss die Kleine und komm mit! Bringen wir unsere Männer an Land. Anschließend werden wir uns gemeinsam ein wenig umsehen! Ich bin mir sicher, wir werden uns königlich amüsieren!« Das 33. Infanterieregiment war Teil einer Verstärkung, die in die Kolonie verschickt worden war, weil Großbritannien wieder blutig mit Frankreich rang. Während des Siebenjährigen Krieges hatte die Kontinentalmacht all ihre befestigten Häfen auf dem Subkontinent an die Briten verloren, und es war den Bourbonen und schließlich dem revolutionären Regime nicht gelungen, diese Stellungen zurückzuerobern. Lediglich die unbefestigten Häfen Pondicherry und Mahé waren der jungen Republik geblieben, obwohl sie auf den Schlachtfeldern Europas die große Koalition der alten Monarchien beständig demütigte. Zugleich wuchs das Interesse Frankreichs am Orient, und William Pitts Regierung erwartete Angriffe gegen die Straße nach Indien und gegen die Kolonie selbst.
»Unser Gepäck lassen wir vorerst an Bord«, entschied Wesley, als die klapprige Fähre neben der Argonaut an der Steuerbordseite festmachte.
»Gepäck? Welches Gepäck, Arthur?« murmelte John Sherbrooke ungehalten. »Den Inhalt der beiden großen Kisten hast du inzwischen gelesen, und den Sattel und das Zaumzeug kannst du dir über die Schulter werfen. Bei mir sieht es leider anders aus ...«
Der Kommandeur des 33. Regiments überhörte die Bemerkung seines Freundes und machte sich daran, die langen Beine über die Reling auf die oberste Sprosse einer Schiffsleiter zu befördern. Der märchenhafte Orient lag kaum zweihundert Meter von ihm entfernt auf der anderen Seite des Hoogley, und in Anbetracht des wunderbaren
Abenteuers, das ihn und sein Regiment bald erwartete, erschienen ihm Oberstleutnant Sherbrookes Argumente kleinkrämerisch und unerheblich. Er musste unbedingt seine frisch erworbenen Sprachkenntnisse ausprobieren und sich mit seinem künftigen Kriegsschauplatz