Der EMP-Effekt. Peter Schmidt
SF- und Wissenschaftsthriller, Psychothriller und Detektivromane.
Bereits dreimal erhielt er den Deutschen Krimipreis („Erfindergeist“, „Die Stunde des Geschichtenerzählers“ und „Das Veteranentreffen“). Für sein bisheriges Gesamtwerk wurde er mit dem Literaturpreis Ruhr ausgezeichnet.
Schmidt studierte Literaturwissenschaft und sprachanalytische und phänomenologische Philosophie mit Schwerpunkt psychologische Grundlagentheorie an der Ruhr-Universität Bochum und veröffentlichte rund 40 Bücher, darunter mehrere Sachbücher.
AUTORENINFO
http://autoren-info-peter-schmidt.blogspot.de/
WEITERE AGENTENTHRILLER
Der Agentenjäger
Erfindergeist (Deutscher Krimipreis)
Die Stunde des Geschichtenerzählers (Deutscher Krimipreis)
Augenschein
Mehnerts Fall
Schafspelz
Das Veteranentreffen (Deutscher Krimipreis)
Die Hauptpersonen
Robert Karga - tüftelt gern, in der Firma und zu Hause
Anja Weißkirch – ist seit acht Jahren mit Karga verlobt
Richard Thaube – will die Revolution vom Krankenbett aus organisieren
Katja Leutner – möchte scheinbar nur Urlaub machen
Beppo Leutner – hat etwas ganz anderes im Kopf als Urlaubspläne
Harry Gart – missbraucht eiskalt seinen Charme
Eathscott – weiß, wie man Karriere macht
Sutter – kennt sich mit Gehirnwäsche aus
Holler – will nur das Beste
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Die Veränderungen hatten ganz unmerklich begonnen. Irgendeine mysteriöse Macht streckte ihre Arme nach ihm aus. Ein unbeteiliger Beobachter hätte glauben können, er bilde sich das alles nur ein …
Aber Karga dachte sofort an seine Zeit nach dem zweiten Staatsexamen. Damals war er als frischgebackener Lehrer für Mathematik wegen seiner dreiwöchigen Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei auf überraschend nachdrückliche Weise ins berufliche Nichts hinauskomplimentiert worden.
Das Erschreckendste aber war gewesen, dass sich niemand zu diesem Grund wirklich hatte bekennen wollen.
Als habe irgendeine anonyme Macht wie Gott die Entscheidung getroffen, hatte er sich schon nach vierzehn Tagen auf der Straße wiedergefunden – trotz seiner Beteuerungen, nun endlich eingesehen zu haben, dass ihre Politik mit Gewaltlosigkeit und Klarheit so wenig zu tun hatte wie Gandhis Schriften mit der Hexenverfolgung.
Innerhalb weniger Stunden und unwiderruflich – mit dem vorgeschobenen Argument, es lägen zu viele Bewerbungen vor.
Anders als beim Glauben an Gott schien es weder die Möglichkeit der Reue und Läuterung noch Gnade zu geben.
Wenn er jetzt in seine Wohnung ging, eine armselige Mansardenwohnung, würde er die gleiche Beobachtung machen wie immer: der Wasserhahn tropfte, obwohl er ihn besonders fest zugedreht hatte, und im Toilettenbecken fanden sich Reste eines nach Medikamenten riechenden, hellgelben Urins.
Die Gardine des einzigen Fensters, aus dem man zur Straßenseite auf den Damm mit den Gleisen des Verschiebebahnhofs sah, war ein wenig abgegriffen, obwohl er selbst nur die Gardinenstange benutzte. Und diese Schmuddeligkeit erneuerte sich auf geheimnisvolle Weise innerhalb von wenigen Tagen.
Es gab noch weitere Hinweise: Einmal war der Werkzeugbehälter seines Fahrrads aufgebrochen gewesen. Dann war sein Personalausweis verlorengegangen. Er benötigte ihn, um sich einen Pass zu beschaffen, denn im Frühjahr wollte er mit Anja in den rumänischen Karpaten Urlaub machen.
Er hatte sie mühsam dazu überreden können, nicht an die Küste zu fahren, da er das Meer, wie überhaupt jede offene Wasserfläche, fürchtete.
Man hätte glauben mögen, ein verlorener Ausweis sei kein Problem. Mit einer Erklärung zur eigenen Identität, der Unterschrift oder dem Vergleich seiner Fingerabdrücke und des Ausweisfotos im Einwohnermeldeamt sei alles erledigt. In seinem Fall jedoch nicht. Es gab unerklärliche Verzögerungen …
Das Seltsamste aber war diese Episode am großen Verkehrsring in der Innenstadt gewesen. Es war Abend, ein Feiertag; welcher, daran erinnerte er sich nicht mehr. Wegen der späten Abendstunde gab es kaum Verkehr. Hohe Geschäftsfassaden säumten das Rondell, Gebilde aus metallgerahmtem Glas, in denen sich die wenigen Lichter spiegelten: zwei Verkehrsampeln und die gelbrote Hängelaterne, die wie in einem Spinngewebe an den sternförmig verspannten Elektroleitungen hing.
Nachträglich hatte er das Gefühl, der einzige Passant gewesen zu sein.
Mehr zufällig war sein Blick zum Dach des Kaufhauses geglitten, auf dem man ein neues Fernsehauge installiert hatte – für die Überwachung des Verkehrs, wenn er den Zeitungsberichten glauben durfte. Das Ding war auf ihn gerichtet …
Noch kein Grund, sich zu wundern. Es mochte bloßer Zufall sein. Als er nach links abbog und auf dem Zwischenstück an der roten Fußgängerampel wartete, folgte die Kamera seiner Richtung, wie er mit einem schnellen Blick bemerkte. Immer noch kein Anlass zu Misstrauen? Nun gut: so etwas kam vor.
Doch als er die Straße überquert hatte, fiel ihm ein, dass er den Telegrammschalter der Post aufsuchen wollte, um eine Nachricht an seine Stiefmutter abzusenden. Sie lebte in der DDR und kam ihn zum ersten Mal seit dem Mauerbau besuchen.
Mitten auf der Verkehrsinsel kehrte er im entgegengesetzten Winkel um. Und diesmal folgte ihm das Fernsehauge, bis er hinter der Hausecke verschwunden war!
Er lehnte sich tief atmend gegen die Mauerwand und wartete etwa zwei Minuten ab.
Ein eigenartiges Kribbeln hatte seine Glieder ergriffen, Ungeduld und Bestürzung zugleich. Doch er beherrschte sich, so gut es ging. Als er endlich zum Dach hinübersah, blickte die Kamera wieder auf das Zentrum des Platzes hinunter …
Dann war da dieses neuartige An- und Abmeldesystem bei der VVG, das Natorp, sein Vorgesetzter, kürzlich eingeführt hatte. Karga galt als ein guter Entwicklungsingenieur. Seitdem er nach seinem gescheiterten Versuch, Lehrer zu werden, mit einigen Semestern Elektrotechnik in die elektronische Unterhaltungsindustrie gegangen war, gab es keine Probleme mehr.
Doch Natorps plötzliche Sorge um sein Wohl überraschte ihn. Die Abteilung bestand nur aus fünf Mitarbeitern. Karga hatte beobachtet, dass er als einziger auf die Stempeluhr verzichten und sich dafür mündlich an- und abmelden durfte.
War das ein Privileg? Oder eine zusätzliche Kontrolle?
Denn Natorp versäumte es nie, ihn über seine Pläne für die Freizeit zu befragen. Sie lauteten fast immer gleich: Wenn er nicht gerade im Bastelkeller saß, würde er Anja, die zwei Etagen über ihm am Projekt eines weiterentwickelten Laser-Plattenspielers arbeitete, wie üblich zum Abendessen einladen.
Sie galten als die längste Verlobung des ganzen Konzerns. Man machte sich bereits über sie lustig. Aber was waren acht Jahre, um einen Menschen kennenzulernen? Außerdem gab es ein Problem zwischen ihnen: sie war eine begeisterte Seglerin, und er litt an Wasserphobie. Wasserflächen jagten ihm Angst ein. Er war unfähig, die kleinste Brücke zu überqueren, geschweige denn mit Anja in eine Segeljolle zu steigen.
Anscheinend gab es keine wirksame Therapie dagegen.
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