Der EMP-Effekt. Peter Schmidt
Während des zweiten Schuljahrs hatte man Karga beim Schwimmunterricht in ein drei Meter tiefes Becken gestoßen – den Metallring der Rettungsstange vor sich, der immer einen halben Meter zurückwich, wenn er danach griff … und er wäre um ein Haar ertrunken …
Sein Schwimmlehrer war später aus dem Dienst entfernt worden. Er hatte schon vor dieser Episode als Schrecken aller Nichtschwimmer gegolten.
Karga ging durch die Unterführung, es war bereits dunkel, und die defekte Gaslaterne am Ende des Tunnels knallte dumpf und in unregelmäßigen Abständen.
Seitdem er sich kontrolliert wähnte, hatte er beschlossen, sich niemals umzublicken. Es wäre der Anfang vom Ende gewesen.
Nicht weil er dabei einen Verfolger zu entdecken glaubte, sondern weil man in jedem Mauerschatten ein Gesicht finden konnte, wenn man nur genügend Einbildungskraft besaß. Obwohl er sich streng an seinen Vorsatz hielt, war er aus irgendeinem Grunde sicher, nicht verfolgt zu werden. Die Straße war eine Art Refugium. Ja, sie mussten es auf etwas anderes abgesehen haben.
Auch seinen elektronischen Bastelkeller schienen sie noch nicht entdeckt zu haben! Er verfügte über zwei Keller, im einen bewahrte er den üblichen Plunder auf, ausrangierte Möbel, Kisten, Dinge, die man nicht mehr in den Schubladen unterbringen konnte.
Der andere war durch die Zusammenlegung zweier Wohnungen frei geworden. Man hatte ihm seine Bitte, ihn als Hobbywerkstatt zu benutzen, nicht abschlagen können.
Der Hausverwalter stand in seiner Schuld. Karga hatte ihm kostenlos eine einbruchsichere Alarmanlage in seiner Wohnung installiert, nach eigenen Plänen entworfen …
Das Haus war dicht vor ihm, ein elender alter Kasten, aber billig. Es stand in einer Reihe ebenso elender abgewohnter Bauten: wie Mahnmale einer ärmeren Vergangenheit, deren man sich angesichts der vollen Schaufenster manchmal besser erinnerte, um nicht völlig jedes Augenmaß zu verlieren.
In der Häuserlückejenseits der Baumkronen ragten die gezackten Türme des Domes vor dem schwarzen Nachthimmel auf.
Ein Güterzug donnerte hinter ihm über die Unterführung. Seitdem Karga bei der VVG arbeitete, hätte er sich eine bessere Wohnung leisten können, vor allen Dingen eine ohne Bahnlärm.
Doch er hing an dieser. Er hatte einen altmodischen Hang zu Dingen aus der Vorkriegszeit. Es passte ganz und gar nicht zu den supermodernen elektronischen Schaltungen, an denen er von morgens bis abends arbeitete. Aber das störte ihn kaum. Gefühle kannten keinen Widerspruch. Widersprüche gab es nur in der Logik oder Mathematik, und da waren sie bestens aufgehoben.
Wenn er sich während seiner Studienjahre auch beinahe fanatisch für die Politik interessiert hatte, so war es kein Widerspruch, sich jetzt um so nachhaltiger von ihr fernzuhalten. Politik war eine andere Form der Aggressivität. Er erfüllte sein Soll als Staatsbürger und ging alle Jahre wählen, wenn man ihm seine Wahlbenachrichtigung schickte. Im Übrigen aber las er keine Zeitungen oder überschlug den politischen Teil.
Er hatte den Dienst heute etwas früher beendet. Es hätte ihn eigentlich nachdenklich machen sollen. Natorp war wegen der Geburt eines Sohnes verhindert gewesen: so hatte Karga sich als sein eigener Vorgesetzter selbst freigegeben.
Erst als er den nur von einer einzigen gelben Glühbirne erleuchteten Hausflur betrat, wurde er sich plötzlich seines Leichtsinns bewusst. Man konnte nie wissen ... Es war still. Nicht ungewöhnlich still für dieses Haus, in dem hauptsächlich alte Leute wohnten.
Einige gingen sehr früh schlafen. Und es gab genügend Lebenszeichen: Essensgeruch von Kohl und gebratenem Speck hing in der Luft, dann ein eigentümlicher Gestank wie von verbranntem Styropor. Auf den ausgetretenen Holzstufen lagen Möbelprospekte. Neben dem Treppengeländer stand ein Kinderwagen. Über ihm ging die Wasserspülung – und mit ihrem Rauschen verlor sich auch seine Befangenheit, verschwand so unvermittelt, wie die Furcht gekommen war.
Schließlich waren sie immer sehr vorsichtig gewesen, vom Urin im Toilettenbecken und dem tropfenden Wasserhahn einmal abgesehen. Sie würden ihn auch jetzt früh genug bemerkt haben .
Er schloss seine Wohnungstür auf – und erstarrte …
In den Korridor fiel von drinnen Licht …
Ein Mann, der einen dunklen Hut trug, erschien an der offenen Wohnzimmertür, als Karga leise seine Korridortür mit der Schulter zudrücken wollte.
Karga schätzte ihn auf etwa vierzig. Er trug einen mittelgrauen Anzug und rieb sich nachdenklich mit dem Handballen über die scharfe Nasenfalte an seiner rechten Wange. Dann ließ er den Arm fallen und deutete mit dem Kinn ins Wohnzimmer.
«Sie? Was, zum Teufel, treibt Sie jetzt schon nach Hause? Kommen Sie rein.»
Seine Stimme klang, als dulde er keinen Widerspruch.
Karga war nicht gewillt, sich einschüchtern zu lassen.
«Darf ich fragen, was Sie in meiner …?»
«Natürlich dürfen Sie. Die Frage ist nur, ob Sie darauf eine Antwort bekommen.» Er lachte unmerklich in sich hinein.
Karga folgte ihm ins Zimmer. Am Tisch vor dem Sofa saß ein zweiter Mann, etwa im gleichen Alter und mit einem grauen Regenmantel bekleidet.
Er blickte auf, als sie eintraten und nickte amüsiert. Keine unverwechselbaren Kennzeichen, registrierte Karga. Ein Dutzendgesicht, glatt, noch mit der Haut eines Kindes.
Seine Arroganz beunruhigte ihn.
Der andere betrachtete Karga unter der Mansardenschräge hockend unverwandt, als studiere er ein großes, unbekanntes Tier, dessen Harmlosigkeit im persönlichen Umgang erwartet wurde. Vielleicht fühlten sie sich auch nur so sicher, weil sie zu zweit waren.
Er blieb vor einem hohen Stuhl stehen. Die Mahagonilehne reichte ihm bis zum Brustansatz, was ihn schmächtiger wirken ließ, als er war. «Falls Sie von der Polizei sind, würde ich jetzt gern Ihre Legitimation sehen …»
Der andere lachte wieder. Es war ein seltsam glucksendes, nach innen gerichtetes Lachen: fast ein Schluckauf, hätte Karga dabei nicht in sein Gesicht geschaut.
«Also keine Polizei? Gewöhnliche Einbrecher?»
Er ging langsam zum Telefon.
«Sie sollten besser die Finger davon lassen», sagte der zweite Mann scharf.
Karga ließ unwillkürlich seine Hände sinken.
Erst jetzt sah er, dass der Mann am Tisch in einer Biographie Mahatma Gandhis blätterte. Sie hatte oben auf dem Buchregal gestanden. Die Spitze seines Zeigefingers schnippte gegen das aufgeschlagene Portrait des Politikers.
«Ich mag‘s nicht, wenn man so mit meinen Büchern umgeht.»
«Ist das hier etwa ein Zeichen von Gewaltlosigkeit?»
Der andere schlug die Seiten um und zog ein Schwarzweißfoto heraus. Karga erkannte es selbst auf diese Distanz, obwohl er es schon vor vielen Jahren in dem Buch vergessen haben mußte. Es stammte aus der Zeit seines Examens und zeigte eine Gruppe Männer, die Strickkapuzen trugen und während einer Demonstration mit Holzknüppeln Schaufensterscheiben einschlugen.
«Ich war nicht daran beteiligt.»
«Schwer zu beweisen, oder? Schließlich tragen alle Kapuzen.»
«Vielleicht genügt es, wenn ich erkläre, dass ich der Fotograf war? Außerdem habe ich mich nicht vor Ihnen zu rechtfertigen.»
«Ihre Anwesenheit damals spricht für sich.»
«Sind Sie vom Verfassungsschutz?»
«Nein, wie kommen Sie darauf?»
«Nennen Sie mir Ihre Namen.»
«Karl – Karl und Franz», sagte der andere und unterdrückte nur mühsam sein glucksendes Lachen. «Ist Ihnen jetzt besser? Sind Sie nun zufrieden?»
«Durch Namen wird alles persönlicher», nickte