Der Plethora-Effekt. Jon Pan
zu informieren. An eine Fluchtmöglichkeit glaubte ich inzwischen nicht mehr. Wir waren von allem getrennt, eine Insel im Nichts, die sich zwar fortzubewegen schien – doch wohin?
Ich entdeckte im Boden ebenfalls eine runde Öffnung. Mir dämmerte langsam, dass es hier möglicherweise eine Symmetrie gab. Die vier Räume mit den Durchgängen bildeten die Mitte. Das hielt ich einfach mal so fest, ohne einen Beweis dafür zu haben. Es war wichtig, mir ein Bild zu machen, wenn auch nur provisorisch aus meiner Vorstellung heraus, an dem ich mich orientieren konnte. Wenn also die Mitte aus den vier Räumen bestand, so dachte ich mir rechts und links – vom zweitvordersten Raum aus – seitlich je drei weitere Räume, zwei auf derselben Höhe und eine weitere Ebene darunter. Vielleicht war die untere Ebene so groß wie die oberen Räume zusammen? Ich hielt mich nun auf der linken Seite im ersten oberen Raum auf, und genau wie drüben führte von dort aus eine runde Öffnung mit Treppe in den unteren hinunter.
Während ich mir das so vorstellte, fixierten meine Augen ununterbrochen den Außerirdischen. Dachte er nach? Vermochte er überhaupt zu denken? Natürlich: um mit einem Raumschiff ins All vorzudringen, musste man Überlegungen anstellen, also denken können. Oder war eine solche Annahme zu simpel? Sie sahen Menschen ähnlich. Auch die Art, wie sie lebten, zumindest hier in diesen weißen Räumen, war mit menschlicher Wahrnehmung nachvollziehbar. Ich selbst tat es ja. Sie atmeten dieselbe Luft. Also musste es dort, wo sie herkamen, eine Atmosphäre wie auf der Erde geben. Wie weit ich schon wieder dachte!
Wieso nahm ich an, diese Außerirdischen könnten einen Planeten bewohnen? Nur weil mir das logisch erschien? Vielleicht war ihre Heimat dieses Raumschiff hier, vielleicht suchten sie eine Möglichkeit, um sich irgendwo niederzulassen. Sie hatten es geschafft, auf der Erde zu landen, warum sollten sie es also nicht schaffen, sich dort anzusiedeln? Möglicherweise war das bereits geschehen.
Der Außerirdische stieg in die runde Öffnung hinein. Sobald ich seinen Kopf nicht mehr sah, bewegte ich mich von der Stelle. Mich interessierten diese schwarzen Liegen, die wie ich vermutete, zum Ausruhen dienten. Es musste sich um einen Schlafraum handeln, denn das grelle Weiß des Bodens wurde durch das flimmernde Rot der Wände und der Decke stark gedämpft. Ich schloss kurz die Augen, wie um zu prüfen, ob die Belastung des unscharfen Sehens dann aus meinen Augen wich. Unter meinen Lidern empfand ich aber keine Entspannung. Ein Feld von stumpfem, mit tief schwarzen Flecken vermischtem Rot breitete sich aus. Dazu verlor ich das Gleichgewicht. Ich musste aufpassen, dass ich nicht in die runde Öffnung hineinstürzte. Rasch riss ich die Augen auf.
Von unten vernahm ich Stimmen. Mindestens zwei der Außerirdischen sprachen miteinander. Ohne auf ihre Laute zu achten, schaute ich mich weiter im Raum um. Ich kniete mich vor einer dieses Liegens nieder und berührte sie mit der flachen Hand. Das Schwarz bestand aus dem grobmaschigen Gewebe, das ich inzwischen kannte. Darunter vermutete ich wieder den weißen Stein. Es sah ganz danach aus, als gäbe es hier vorwiegend zwei Materialien. Und das Rot der Würfel und der Wände? War das nicht derselbe Stein, nur durch irgendein Verfahren mit dem Purpur der Blätter eingefärbt? Also gab es drei Materialien: weißer, leuchtender Stein, schwarzes, grobmaschiges Gewebe und purpurne, welke Blätter.
Ich entschloss mich, in den unteren Raum hinunterzusteigen. Die Treppe war genau gleich gebaut wie die auf der anderen Seite. Den Trichter hielt ich nach wie vor in der Hand. Mit den Beinen voran in einer mir unbekannten Umgebung anzukommen, behagte mir zwar nicht. Doch es blieb mir keine andere Wahl. Ich beeilte mich aber, um möglichst schnell die neue Situation mit meinen Augen abschätzen zu können. Unten auf der Treppe blieb ich stehen. Was ich sah, hatte ich nicht erwartet.
Der Raum war ebenfalls rötlich eingefärbt, wenn auch nicht so intensiv wie der darüber liegende. Auf dem weißen Boden gab es ein Muster, das aus schwarzen, schmalen Bahnen bestand. Es erinnerte mich an das überdimensionale Brett eines Mühlespiels. Auf den Schnittpunkten der etwa handbreiten Bahnen standen Außerirdische, vier an der Zahl. Sie sprachen zwischendurch einige Laute, wobei sich einer dann – mal vorwärts, mal rückwärts – von einem Schnittpunkt zum nächstliegenden bewegte. Es herrschte eine sehr gelöste Stimmung, die sich sogar auf mich übertrug und die den vier Außerirdischen jegliche Gefährlichkeit nahm. Sie spielten ein Spiel. Da täuschte ich mich nicht. Doch was war das für ein Spiel? Sie selbst betätigten sich als Figuren, die ich nur durch die verschiedenartigen braunen Flecken in ihren Gesichtern auseinanderhalten konnte. Von meiner Anwesenheit nahmen sie keinerlei Kenntnis. Ich suchte nach den Spielregeln, doch die Koordination von Sprechen und Bewegen erschien mir willkürlich. Das Muster, also die Spielfläche auf dem Boden, war symmetrisch und relativ einfach in ihrer Struktur. Insgesamt zählte ich zwölf Schnittpunkte. Aufmerksam schaute ich eine Weile zu, dann stieg ich in den oberen Raum zurück.
Wenn meine Annahme richtig war, dann hatte ich jetzt nur einen Raum noch nicht betreten, und zwar denjenigen, der direkt an den Schlafraum angrenzte. Um in ihn hinein zu gelangen, musste ich mit dem Klang der Saite die rot-flimmernde Wand auflösen. Etwas hinderte mich aber daran, dies zu tun, und das lag nicht allein daran, dass ich die drei Außerirdischen, die ich bisher immer in geschlossener Gruppe angetroffen hatte, dort vermutete. Vielmehr war da die Furcht vor etwas Unfassbarem, das ich mir in keiner Form vorzustellen vermochte.
Ich zählte zusammen: die drei Außerirdischen, die als Gruppe umhergingen, die fünf auf den Würfeln und die vier unter mir bei ihrem seltsamen Spiel – das waren zwölf. Das entsprach den zwölf Portionen Purpurblätter auf dem altarartigen Tisch. Dann hatte ich also die ganze Besatzung gesehen. Gut. Nur beruhigte mich das nicht. Da musste noch etwas sein. Der letzte Raum! Aber was erwartete ich? Genügte es mir nicht, was ich schon erlebt hatte? Auch wenn ich noch lebte, so bedeutete das nicht, dass ich überleben würde.
Ich durfte nicht wieder in diese Gedanken der Verzweiflung und der Ohnmacht hinein geraten. Warum betete ich nicht? Jetzt durchquerte ich doch das Reich, von dem aus – wie ich, vor allem als Kind, immer angenommen hatte – Gott seine gütige Kraft auf die kleine Erde lenkte. Vom All oder Kosmos aus hatte doch alles seinen Ursprung. Dort saß Gott? Doch wo war das? Dort? Ich war ein hilfloser Körper mit hilflosen Gedanken am Rande der Verzweiflung. Ich, der Sklave weißer Räume und fremder Gestalten in schwarzen Gewändern.
Mitten in einer Schreckensvision, einem Alptraum, und doch war ich weit weg von jeglicher Einbildung, denn ich spürte den umklammernden Griff der Wirklichkeit. Stählern wurde ich hinunter auf den blanken Boden der Realität gezwungen. Die Illusion des Traumes platzte. Ich schrie: »Lasst mich raus!« Sackte zusammen, richtete mich auf, von Wut gepeitscht, wollte den Trichter an der rot-flimmernden Wand zerschmettern. Die Unschärfe, mit der mir alles im Raum begegnete, machte mich rasend. »Raus, raus, raus!«, keuchte ich. Gleichgültigkeit schlug mir entgegen. Gott und Kosmos schwiegen. War ich endgültig verloren? Ich musste hinüber in den Raum mit den mir vertrauten Gegenständen. Kraftvoll strich ich über die Saite und glaubte in ihrem Klang meine eigene Verzweiflung mitschwingen zu hören.
Ich passierte das Mittelstück, ohne die fünf auf den Würfeln sitzende Männer zu beachten. Von dort aus durchstieg ich die weiteren Wände und gelangte wieder in den Raum mit den irdischen Gegenständen. Das Brennen auf der Haut nahm immer mehr zu. Ich warf einen flüchtigen Blick auf meine Unterarme, die nicht die geringste Rötung aufwiesen. Allerdings entdeckte ich nun eine ganz dünne Schicht dieses weißen Staubs, der sich in meinen Poren festgesetzt hatte. Vielleicht war die Ursache dieser von Schmerzen begleiteten Spannung nicht in einer Verbrennung zu suchen. Beim Durchsteigen des Nebels hatte ich ja auch nie eine außergewöhnliche Wärme verspürt. Dabei wäre das logisch gewesen, denn das Schwingen der Saite schien die Moleküle des Steins zu beschleunigen. Doch wusste ich über die physikalischen Gesetze, die hier um mich herum herrschten, zu wenig, um dies mit Sicherheit sagen zu können. Der Gedanke, dass nicht Hitze, sondern etwas Unbekanntes meine Haut verletzte, beschäftigte mich. Hatte es gar mit Radioaktivität zu tun? Natürlich – wie konnte ich nur so leichtsinnig sein! Niemand warnte mich. Allein auf mich gestellt, musste ich mich Schritt für Schritt vorantasten.
Ich bückte mich zu der kleinen Kommode hinunter. Sie hatte drei Schubladen mit Messingbeschlägen. In jeder steckte ein Schlüssel. Langsam zog ich die oberste auf. Sauber gebügelte Wäsche lag darin. Ein angenehmer Duft stieg mir entgegen, ein Duft, der mich an das Leben auf der Erde erinnerte, an den nahen Kontakt mit Menschen. Die Wäschestücke