Der Plethora-Effekt. Jon Pan

Der Plethora-Effekt - Jon Pan


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ich es endlich aus. Und es lag mir nichts daran, die Antwort abzuwarten, also fuhr ich fort: »Sie will mich bei dir nämlich anschwärzen. Aber das hat nichts zu bedeuten. Sie ist sauer, weil ich sie verlassen habe. Dazu kommt, dass ich ihr ein Kabriolett zu Schrott gefahren habe. Und Geld von ihr habe ich auch verspielt. Ach ja, und der Wagen, in dem wir hier gerade fahren, den hat mir Onkel Samuel, nebst anderem, bezahlt.«

      Sie war erstaunt. Ich spürte es deutlich.

      »Wie war das?«, fragte sie nach einer kurzen Pause.

      »Hat dich Charlotte nicht angerufen?«, fragte ich zurück.

      »Wer ist Charlotte? Ich kenne keine Charlotte.« Martina spielte mir nichts vor. »Willst du mich nicht aufklären?«

      Ich fand es an der Zeit, irgendwo anzuhalten, denn wir fuhren ununterbrochen. Raus aus der Stadt wollten wir. Gut. Doch das hatten wir längst hinter uns. Ich nahm etwas Gas weg und hielt Ausschau nach einer geeigneten Abzweigung, die uns von der Straße wegführen konnte. Langsam wurde es dunkel, doch noch schaltete ich die Scheinwerfer nicht ein. Martina warf die abgerauchte Zigarette aus dem Wagenfenster. Ich glaubte, eine Unruhe zu spüren, die von ihr ausging. War sie verwirrt? Ich hatte mich ihr in einigen wenigen Sätzen offenbart. Das sollte mir mal einer nachmachen! Ja, ich fühlte mich stolz. Keine Spur von Lächerlichkeit. Ich hatte eine konzentrierte Dosis ausgespritzt und Martina damit eine momentane Lähmung verpasst. Allerdings wagte ich sie nicht anzublicken, vielleicht weil ich befürchtete, sie so lebendig wie zuvor zu sehen.

      »Du benimmst dich heute wirklich seltsam«, sagte sie, nachdem sie sich eine neue Zigarette angesteckt hatte.

      In etwa hundert Meter Entfernung entdeckte ich einen schmalen Weg, der sich zu einem Plateau hinunter schlängelte, auf dem es, soweit ich das erkannte, hohes Gras gab, von Büschen umzäunt. War das ein Platz, um sich hinzulegen? Wieso dachte ich das plötzlich? Zudem: Wir hatten doch den Wagen. Und überhaupt: Es gab einiges zu bereden. Warum war ich nicht ehrlich zu mir? Ich fühlte mich unvermittelt in der Lage, dieses ganze komplizierte Gefüge, das ich um uns herum aufzurichten im Begriff war und das sowieso nie richtig funktionieren würde, kurzerhand zu Müll zu erklären. Suchten wir beide nicht etwas anderes?

      Verstand Martina überhaupt, was ich ihr sagen wollte? »Es wird langsam dunkel«, stellte sie einfach fest.

      Ich kannte die Gegend, in der wir uns befanden, nicht besonders gut. Allerdings wusste ich, dass wir uns einem Motel mit Restaurant und Tankstelle näherten. Dort vorbeizufahren, wollte ich vermeiden, und zwar aus dem einfachen Grund: Mir lag im Moment nichts mehr daran, mit Martina in einem Lokal zu sitzen.

      Ohne sie vorzuwarnen, bog ich ab. Ich hatte den schmalen Weg im letzten Augenblick entdeckt. Der Wagen war, trotz des heruntergesetzten Tempos, zu schnell. Auf dem Teerbelag der Straße kreischten die Pneus, auf dem Schotter des Wegs brachen sie hinten aus. Martina klammerte sich lautlos am Sitz fest. Das ganze Manöver dauerte nur wenige Sekunden, dann hatte ich alles wieder im Griff. Ich lehnte mich zurück, um lockerer zu wirken. Dann wandte ich mich Martina zu, lächelte.

      Sie strich sich mit einer schnellen Bewegung das Haar nach hinten. Die Hand mit der Zigarette zitterte. Inzwischen standen wir, nur der Motor lief noch. In der hereinbrechenden Dunkelheit sah Martinas Gesicht bleich aus. Sie schüttelte den Kopf und fragte leise: »Machst du das immer so?«

      »Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe«, sagte ich.

      »Und jetzt?«, fragte sie.

      »Es ist hier angenehm kühl«, stellte ich fest und schaltete den Motor aus.

      Sie nickte schwach mit dem Kopf.

      »Wollen wir ein bisschen zu Fuß gehen?«, schlug ich vor.

      Damit war sie einverstanden.

      Wir stiegen aus. Der Weg, in den ich abgebogen war, führte durch flaches Gelände mit meist verdorrtem Gras. Weiter vorne entdeckte ich jedoch eine Gruppe von Bäumen und Büschen, die in sattem Grün da standen. Ich nahm an, dass es dort vielleicht einen kleinen Bach oder gar einen Teich gab. Ohne uns zu beeilen, schritten wir darauf zu. »Das sieht hier ganz schön verlassen aus«, sagte Martina.

      Ich legte ihr den Arm um ihre Schulter, drückte sie seitlich an mich. Wir blieben stehen und küssten uns. Sofort fühlte ich mich erregt. Was war die ganze Zeit nur in mir vorgegangen? Wie leicht plötzlich alles schien. Die Luft kühlte sich ab, die Nacht brach herein, und hier draußen störte uns niemand. Was wollte ich noch mehr?

      »Warst du schon öfters hier?«, fragte mich Martina.

      »Nein«, antwortete ich.

      »Keine Häuser, nichts. Es mag ja schön sein, aber – « Sie sprach nicht weiter.

      Ich schaute sie fragend an, küsste sie nochmals, streichelte ihr übers Haar.

      Wenig später kamen wir bei den Bäumen und Büschen an, die wie eine kleine Oase wirkten. Tatsächlich gab es einen kleinen Bach, der jedoch fast ausgetrocknet war. Wir ließen uns an einer freien Stelle in der Nähe des Baches ins Gras nieder, tauschten, ohne Worte zu verlieren, Zärtlichkeiten aus. Erinnerungen an die ersten Tage mit Martina tauchten bei mir auf. Wie sehr hatte ich mir doch gewünscht, mit ihr zu schlafen. Und nichts war passiert. Würde sie überhaupt mit mir schlafen wollen? Bis heute wusste ich es nicht. Meine Hand tastete ihren Körper entlang, rutschte unter das zitronengelbe Kleid. Einer der feinen Träger fiel ihr über ihre Schulter. Wo blieb meine Zurückhaltung? Sie existierte nicht mehr. Martina kippte aus ihrer Sitzhaltung seitlich ins Gras, ich folgte ihr. Ausgestreckt lagen wir da und streichelten uns.

      »Findest du, dass ich mich heute seltsam benehme?«, musste ich sie fragen.

      Da war es ja wieder. Hinterhältig fiel es mich an. Entweder ich schlief augenblicklich mit ihr, dann könnte ich schweigen. Ansonsten würde ich reden müssen, über mich reden.

      Martina setzte sich auf. Damit bewegte sie sich aus der Zone, in der ich sie ohne zu zögern verführt hätte, heraus. Also redete ich.

      »Was ich dir vorhin aufgezählt habe«, sagte ich, »hat dich sicher erstaunt. Aber ich finde es einfach wichtig, mit dir über gewisse Dinge zu reden. Wir kennen uns nun schon seit vier Wochen, und trotzdem behandeln wir uns wie zwei Fremde. Das muss nicht sein.«

      Sie drehte mir das Gesicht zu, schaute mir direkt in die Augen. »Hast du etwas verbrochen?«, fragte sie, was keinesfalls als Scherz gemeint war.

      »Ich bin vielleicht nicht der, für den du mich hältst«, sagte ich.

      »Sondern?« Ihre schönen Augen ließen nicht von mir ab.

      »Wie soll es mit uns weitergehen?«, fuhr ich fort. »Hast du dir darüber schon Gedanken gemacht?«

      »Nein«, sagte sie.

      »Und deine Mutter? Weiß sie von mir?«

      »Was hat meine Mutter mit uns zu tun?«

      »Du wohnst doch bei ihr. Da wird sie dich sicher fragen, mit wem du deine Freizeit verbringst.«

      Sie presste die Lippen zusammen, schüttelte den Kopf und warf sich das offene Haar in den Nacken.

      »Interessiert es dich denn nicht, wer ich bin und was ich sonst so mache?«, wollte ich wissen.

      Ich kam mir vor, als würde ich dauernd auf dem Boden herumkrabbeln. Stand sie denn tatsächlich über mir? Ich wollte ihr doch nur beibringen, wer ich war. Oder täuschte ich mich da? Lag mir nicht vielmehr daran, mir selbst bei zubringen, wer ich war? Oder sein wollte? Warum schlief ich nicht mit ihr? Nur darin lag die Lösung: diesen ganzen Ballast wegzuwerfen. Ich hatte mich verstrickt. Verdammt, ich liebte sie nicht! Unsinn war das! Seit vier Wochen lauerte in meiner Hose ein gieriges Tier. Und ich hatte mir vorgenommen, das Seil möglichst hoch aufzuspannen, um meine Kunststücke vorzuführen. Es gab doch gar kein Publikum. Zudem würde ich ohnehin platt auf die Nase fallen. Das stand mir bevor. Die Zäune der Rechtfertigung, die ich um mich herum errichtete, wurden mir selbst zur Falle. Stürzen und sich verheddern in einem. Dabei brauchte ich mich bloß gehen zu lassen. Und Charlotte? Päng! Weg war sie. Sie fiel durch mich hindurch.


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