Nachtschwärmer Online. Jules van der Ley
Dann wäre es schön, die vierspurige Straße hinauf zu nehmen. Sie teilt sich allmählich, und hinter der Kreuzung erhebt sich zwischen den Fahrstreifen der Rest eines Berges. Die Kuppe ist noch da, dicht mit Büschen und Bäumen besetzt, und ganz oben steht ein Turm. Der lange Turm heißt er und so sieht er aus. Er ist der Rest einer alten Stadtumwallung, und soviel ich weiß, hat er hoch oben Studentenwohnungen.
Wir steigen die Treppe zum Turm hinauf. Schon oft habe ich an seinem Fuß gestanden und hoch geschaut. Da oben muss doch trotz aller Einschränkungen ein wunderbares Studierzimmer sein, hoch über der Stadt, den Talkessel zu Füßen. Da muss einer schon viel Stroh im Kopf haben, um da nicht ein Genie zu werden.
Vom Fuß des Turms kannst du die Stadt nicht sehen. Große Büsche versperren die Aussicht. Jetzt sind sie schwarz, doch bald ist Vollmond. Dann wird es anders sein.
Du gehst ein bisschen weiter nach Norden. Der Berg flacht sich ab, die Büsche lichten sich. Über dir weitet sich ein locker bewölkter Abendhimmel, und zu deinen Füßen liegt die glitzernde Stadt.
Denkst du nicht auch, da unten ist ein Wuseln, Brodeln und Sausen? Menschen, die faul vor dem Fernseher liegen, an der Matratze horchen, es miteinander treiben. Andere in erbärmlichen Zuständen fechten gerade den 200. Streit aus oder irren durch die nächtlichen Straßen; - was es halt so im Leben gibt.
Eine unfassliche Vielfalt da unten, und dabei ist es nur eine relativ kleine Stadt. Nimmst du die Fülle der Städte des Erdballs, dann ist’s ein Sausen, Brausen und Brodeln, Machen und Tun, dass einem glatt schwindelig werden kann.
Stell dir vor, du hättest eine magische Kamera. Und in dem Augenblick, in dem du dort stehst und über das Lichterfunkeln der Stadt zu deinen Füßen schaust, würdest du ein Foto aller Gehirne machen, das die in den Köpfen herumschwirrenden Worte speichert. Weißt du, was ich meine? Jeder hat doch ein Universum in seinem Kopf. Das besteht aus seinen Erinnerungen, seinen Erfahrungen, seinem Wissen, seinen Kenntnissen, seine Wünschen und Träumen. Mit jedem neuen Eindruck wird dieses Bild erweitert, wobei man das Neue da anleimt, wo es zu passen scheint. So hat also eigentlich jeder ein sich fortschreibendes Lebensbuch im Kopf, in dem er ständig liest. Und wenn du jetzt einen Schnappschuss von all diesen Lebensbüchern machen könnte, ja, hättest du dann nicht die unendliche Bibliothek, von der ein alter deutscher Science-Fiction-Autor mit Namen Kurt Lassnitz erzählt?
Doch einstweilen stehst du ja noch da oben. Du willst einfach mal in Ruhe gucken und dich nicht von mir zutexten lassen.
Wenn du genug geguckt hast, dann gehst du nach Hause und legst dich schön ins Bett.
Gute Nacht, meine Liebe
Fastenspeise der Buddhisten
Der Mond scheint uns auf den Rücken, denn wir gehen am Fuß des Langen Turms vorbei, bis zum Ende des Grüns und dann über die Straße.
Auf der Brücke hier stehe ich gern. Vor mir die Stadt und unter mir die Bahngleise des nahen Westbahnhofes. Sie kommen mehrgleisig unter der Brücke hervor und schwingen in einem großen Bogen aus dem Blickfeld. Im Hintergrund siehst du die angestrahlte Jakobskirche. Ihr Dach ist aus Kupfer und mit Grünspan überzogen.
Besonders eindrucksvoll ist der Blick auf die Gleise, wenn ein Güterzug und ein Personenzug gleichzeitig fahren. Sie bleiben eine Weile parallel, dann kreuzen sie, denn eine Trasse schwingt nach Süden, Richtung Hauptbahnhof, die andere nach Westen zur Stadt hinaus. Dazu müssen die beiden Strecken übereinander geführt werden. Ein Gleis überquert das andere und führt durch eine aus Bruchsteinen gemauerte Brücke mit großen Fensterbögen.
Schon oft habe ich mir gewünscht, einmal auf der Güterbahnlinie zu fahren. Denn wo wir sie aus den Augen verlieren, schwingt sie in eine Grünanlage, dann über eine Straße hinweg … kurz gesagt, sie führt genau an den südlichen Fenstern meiner Wohnung vorbei.
Es ist ohrenbetäubend, wenn du unten am Haus stehst und zwei dicke belgische Dieselloks hintereinander brausen über deinem Kopf vorbei. Sie müssen Gas geben, die Strecke steigt an und führt längere Zeit über einen gemauerten Damm.
Die Güterzüge kann ich leicht an ihrem Geräusch unterscheiden. Man müsste taub sein, das nicht zu hören. Die belgischen Dieselloks kommen zu zweit und drehen auf, wenn sie den leichten Anstieg über den Damm bewältigen müssen. Du kannst dir zwei Finger in die Ohren stecken, sie fahren trotzdem durch deinen Kopf. Die deutsche Bahn schickt E-Loks. Manchmal schiebt auch eine deutsche E-Lok eine belgische Güterlok an. Sie kann aber nur bis in den Gemmenicher Tunnel und kommt alleine zurück.
Ich hasse und liebe diese Züge. Es ist immer wieder aufregend, wenn sie vorbeiziehen. Doch die südlichen Fenster kann ich nachts nicht öffnen. Tja, diese schöne lichtdurchflutete Altbauwohnung mit einem Erkerfenster und so, die konnte ich mir woanders nicht leisten. Bald werde ich umziehen, mein Schlaf ist zu unruhig. Trotzdem werde ich die Eisenbahnen vermissen.
Jetzt aber zur Fahrt auf der Güterbahnlinie...
Noch mal zurück an den Westbahnhof, auf die Gleisstrecke geschaut, der Mond schön am Himmel neben dem Turm der Jakobskirche … es wäre doch blöd, mit einer fauchenden Diesellok zu fahren. Nein, ich fände gut, da unten auf dem Gleis hätten wir eine Draisine. Eine offene Plattform auf vier Eisenbahnrädern. Und wie sie angetrieben wird, ist egal. Hauptsache, man hört es nicht. Nur das Rollen der Räder auf den Schienen.
Eisen auf Eisen rollt sich ab,
Rad und Schiene gibt sich den Kuss.
Mal geht es hinab, dann wieder hinauf,
Hier fremder Wille, dort freier Lauf.
Kannst du dir vorstellen, auf der Plattform der Draisine sitzt man zu zweit, dick eingepackt und braust über das Gleis gen Westen? Man hat den kalten Nachtwind im Gesicht, sitzt gut und lässt den lieben Gott einen guten Mann sein? Dann geht es zuerst den Damm hinauf, damit wir die andere Strecke kreuzen können, und dann hinein in die Schwärze der gemauerten Brücke. Durch die Fensterbögen blinken und flackern die Lichter der Stadt, du siehst Nachtschwärmer über eine Kreuzung gehen. Doch wir sind nicht wie sie, denn wir sind rasende, sausende Nachtschwärmer, wir rollen Eisen auf Eisen Richtung Grün.
Dann ist auch schon die Straßenbrücke erreicht, du siehst mein Haus und Licht hinter meinem Erkerfenster. Ich sitze nämlich gerade dort und schreibe diesen Text. Ist das nicht verrückt?
Ja, du kannst einmal winken, vielleicht schaue ich zufällig raus. Das tue ich auf jeden Fall, bevor ich zu Bett gehe. Dann klemme ich zum Lüften nämlich das Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“ von Herrn Sick in den Fensterrahmen, damit das Fenster nicht zufällt, während ich im Bad bin.
Der Titel ist eigentlich ein bärtiger Linguistenwitz. Und inhaltlich stimmt er nicht. Das Schwinden des Genitivs ist ein Märchen, gilt allenfalls für die Umgangssprache.
Sprachpfleger sind mir nicht geheuer. Sie kommen wir vor wie Kleingärtner, die den Regenwald jäten wollen. Sprache muss leben. Und damit sie lebt, muss es auch Wildwuchs geben.
Sollen wir ein Stück weiter fahren auf dieser feinen Güterbahnlinie?
Na gut, bis zur nächsten Brücke. Wir halten an der Unterführung, damit ich noch nach Hause laufen kann.
Kannst du dir vorstellen, wie du den Fahrtwind im Gesicht hast und wie der Schotter des Gleiskörpers dicht unter dir vorbeiflitzt? Etwas Ähnliches habe ich einmal erlebt, als nicht viel Licht in meiner Welt war. Ich hauste dunkel, mir ging es schlecht.
Natürlich gab es auch in dieser Zeit glückliche Momente, und von einem erzähle ich.
Ich ging so trüb die Straße entlang, da bremst neben mir ein altes Seitenwagengespann. Und wer hält den Lenker? Mein alter Freund Nebenmann.
Er sagt: „Willst du nicht mitkommen? Ich treffe mich gleich mit meinem Sohn, wir wollen indonesisch essen.“
Ja, gut, aber wie?
„Du kannst im Seitenwagen sitzen“, sagt er. „Ist