Nachtschwärmer Online. Jules van der Ley
vom Westbahnhof ein langer Güterzug. Bringt Autos von Köln über Aachen nach Belgien. Dann sind wir schon weg. Wir sitzen gut, du bist eingepackt, lehnst dich irgendwo an. Bei mir oder nicht, das musst du entscheiden. Hauptsache wir sitzen beide bequem.
Den Anstieg hoch, in die gemauerte Brücke hinein, Eisen auf Eisen rollt sich ab. Du winkst mal nach unten den Leuten zu, gleich an der Straße, wo wir das Schindeldach sehen. Wir rollen durchs Grün, bei mir entlang...
... doch wir sausen vorbei, wir wollen was erleben.
Wir werden sehr schnell, denn wir halten jetzt nicht, damit wir heute den altbelgischen Ort Moresnet erreichen.
Da ist auch schon der Friedhof. Er schreckt uns heute nicht, wir haben ja schon gestern einmal gezuckt. Das langt für die nächsten Wochen.
Herr Oberbürgermeister, Sie sind noch auf, dort oben in Ihrem schönen Neubau? Was wird denn heute Nacht noch so regiert? Ehrlich gesagt, wir wollen es nicht wissen. Denn wir haben gestern nicht richtig geguckt. Im Tal vor dem Drielandenpunt gibt es eigentlich eine schöne Landschaft zu sehen. Wenn es heller wäre jedenfalls. Die Lichter der Bauernhöfe reichen nicht weit. Ein paar Stallungen sehen wir noch, das fahle Mondlicht auf den Wiesen. Zu unserer Linken ahnst du den Saum des Stadtwaldes. Dort oben bin ich oft schon gegangen. Man sieht ins weite Tal hinab und kann mit den Augen den Gleisen folgen, bis sie dann im Gemmenicher Tunnel verschwinden. Der Name Gemmenich leitet sich vermutlich von Gemme ab, einem alten Wort für Edelstein. Man hat nämlich in der Gegend Galmei gefunden, ein Mineral für die Zink- und Messingherstellung.
In der Mitte der Tunnelröhre verläuft die Grenze zwischen Deutschland und Belgien. Da hört wie gesagt die Elektrifizierung auf. Die belgische Eisenbahn arbeitet schon Jahrzehnte mit „Hochdruck“ daran, ein kurzes Stück fehlender Elektrifizierung zu schließen. Das muss man verstehen. Belgien hat drei Kulturen, die Deutschsprachige Gemeinschaft, die Wallonische und die Flämische. Alles muss in drei Landessprachen verhandelt, beschlossen und dokumentiert werden. Der Gemmenicher Tunnel führt ins alte Neutral-Moresnet, ein von 1816 bis 1919 bestehendes, etwa vier Quadratkilometer großes neutrales Territorium zwischen dem Vereinigten Königreich der Niederlande, dem Königreich Belgien und dem Königreich Preußen Ab 1907 gab es eine Gruppe Esperanto-Anhänger. Sie wollten aus Neutral-Moresnet einen Esperanto-Staat mit Namen Amikejo bilden. Amikejo ist Esperato und bedeutet „Ort der Freunde“. Der Chefarzt der Erzgrube, Wilhelm Molly, wollte in Neutral-Moresnet den ersten Esperanto-Staat der Welt ausrufen.
Einmal musste sogar der Thalys durch den Gemmenicher Tunnel fahren, weil der Aachener Buschtunnel kurzzeitig gesperrt war. Ich hörte ihn, derweil ich am Rechner saß. Sein Geräusch ist unverkennbar. Daher schaute ich zu meinem Erkerfenster hinaus, sah den Thalys vorbeiziehen und habe mich gewundert, dass dieser französische Hochgeschwindigkeitszug auf dem Gleis beliebt zu fahren, auf dem auch unsere Draisine fährt.
Was meinst du, sollen wir halten? Es ist besser, wir lassen zuerst die Diesellok passieren, damit sie uns nicht im Tunnel erwischt. Inzwischen erzähle ich dir etwa über den Dreiländerpunkt.
Man kann dort oben um eine kurze Säule laufen, dann ist man in Deutschland, in den Niederlanden und in Belgien in einem Rund. Die Reihenfolge gilt natürlich nur, wenn du links herum läufst.
Die Belgier wie die Niederländer haben auf dem Dreiländerpunkt Andenkenbuden. Auch zwei Aussichtstürme gibt es. Der belgische ist gleich hier über uns, der niederländische weiter nördlich.
Es gibt auch ein ziemlich weitläufiges Heckenlabyrinth, da aber im Winterhalbjahr geschlossen hat. Im Sommer schießen aus den Wegen Wasserstrahlen auf. Das wollte man bei diesen Temperaturen nicht haben.
Der Drielandenpunt ist der höchste Berg der Niederlande. Auf diesen Berg sind die Holländer stolz. Touristenströme im Sommer, ganze Busladungen von Menschen, Fotos am Drielandenpunt, Hütchen aus dem Büdchen, das ganze Programm.
Doch in einem Sommer haben die Gemeinderäte von Vaals ein Stück des Berges an die Jünger des Mahareshi Yogi verkauft. Da weißt schon, das sind die von der Transzendentalen Meditation. Sie wollen auf dem Drielandenpunt ein Zentrum, einen Tempel errichten, um die Welt zu missionieren, quasi zu erlösen. Der Platz sei ideal, sagen sie, weil die Niederländer inzwischen ein friedliches Volk sind. Man hat also passender Weise einen Irrgarten gekauft. Übrigens hat es zum Auftakt der weltweiten Menschenverirrung auf dem Drielandenpunt eine Elefantenprozession gegeben. Religion braucht Brimborium.
Ja, guck nur hoch! Da oben liefen Elefanten rum! Ich habe auch gestaunt. Und noch mehr habe ich gestaunt, als ich mit meinem Freund Nebenmann einmal im Holz war, und unten auf der Maastrichter Laan rollten sieben cremefarbene Stretch-Limousinen vorbei. Darin saßen die „Könige“ der Transzendentalen Meditation. Sie hatten den Drielandenpunt besucht.
Ist doch jeck, oder?
Ich höre was, die Diesellok! Der Tunnel wirkt wie ein Schalltrichter. Komm, wir halten uns die Ohren zu und ducken uns, bis die der Güterzug vorbei ist.
…
Uff, das wäre überstanden, und ich glaube, wir leben noch. Das war eine wilde Musik aus Motorkrach und Eisen, nicht wahr? Mir singen die Ohren, als wäre mein Kopf mal ein Amboss gewesen.
Komm, wir fahren, rollen gemächlich auf den Tunnel zu und lassen die Elefanten einfach Dickhäuter sein. Das ist Journalistenschnack. Schreibst du zuerst „Elefant“, dann sollst du bei der nächsten Erwähnung ein anderes Wort verwenden. Ein Synonym. Jetzt sag mir mal ein gescheites Synonym zu „Elefant“? Das ist doch albern, oder? Irgendeiner hat sich mal den „Dickhäuter“ rausgewrungen, und jetzt lernt jeder drittklassige Zeitungsschreiber, dass man statt Elefant Dickhäuter schreiben soll. Einen Radfahrer nennen sie bei der zweiten Erwähnung „Pedaltreter“, danach „Pedalritter“. Eigentlich ist Pedaltreter sachlich falsch. Autofahrer treten das Kupplungs-, das Brems-, das Gaspedal, Radfahrer treten eine Kurbel.
„Pedaltreter bei einem Unfall ums Leben gekommen. Drahtesel verbogen.“
Möchtest du so blöd sterben? Ich nicht.
Der Sohn des Bürgermeisters heißt beim zweiten Erwähnen „Sprössling“. Es ist Schreiben ohne Denken, oder?
Genug der Klugscheißerei. Ich könnte dir noch erzählen, dass auf der deutschen Seite des Drielandenpunts ein Nudistencamp liegt. Ob die jetzt da oben nackt in ihren Holzhäusern sitzen und haben nur eine warme Mütze auf dem Kopf?
Da habe ich es doch lieber umgekehrt. Bin gut eingepackt und habe den Kopf frei. Ach, du bist von meinem Gerede ganz schläfrig geworden? Dann lehne einfach den Kopf bei mir an. Es ist ganz harmlos, versteht sich.
Halt, du nicht! Du bist ein Mann. Stell dir eine Frau neben dir vor. Wenn du darauf stehst, meine ich. Tut mir leid, falls du zufällig auf Männer stehst, - in meinem Alter will ich nicht mehr umschulen.
Wir rollen jetzt auf das Tunnelmundloch zu. Willst du eine lange Durchfahrt oder eine verkürzte? Komm, nimm die verkürzte. Wir sehen sowieso nichts.
…
Das Tunnelende. Wir flutschen raus aus dem Kohlensack, ein Glück. So ein Wald bei Nacht ist immer noch heller als ein Tunnel.
Bist du eigentlich wirklich schon müde? Ich habe den Eindruck, oder bin ich es selbst?
Wir halten jedenfalls gleich. Bald lichtet sich der Wald, und auf der rechten Seite tauchen die Lichter von Moresnet auf.
Vielleicht sollten wir zuerst ins Café gehen, damit dir wieder warm wird. Die Müdigkeit kühlt doch ziemlich aus, nicht wahr?
Ah, die Tür ist noch auf. Wir gehen einfach hinein. Wir sind die einzigen Gäste. Kein Wunder, denn in Moresnet werden schon früh die Bürgersteige hochgeklappt.
Gleich kommt Madame Grosch und fragt uns, was wir möchten. Ich hoffe, du kannst Esperanto. Na, hör mal, du als Cosmopolitin! Komm, wir suchen uns einen Platz am Fenster. Guck mal stiekum, Madame Grosch hat schon die Pantoffeln an. Sie wollte eigentlich ins Bett.
Da gehören wir zwei auch hin. Wir trinken unseren Tee, und dann gehst du in deins und ich in meins.
Gute