Die Sümpfe. Gerhard Wolff
Das war der Fehler ihres Lebens.
„Fickfehler! Ich bin ein Fickfehler!“, dachte Tom.
Sie fügte sich in das, was man von ihr erwartete, aber sie kam nicht über das Leben mit diesem dummen, aggressiven, sturen und eigensüchtigen Mann hinweg, vor allem nicht über seine Alkoholsucht. Sie wurde nervenkrank und schließlich nahm sie sich das Leben. Da hatte er sich geschworen, dass er seinen Vater trotz seiner Trauer überleben musste.
Er setzte sich auf sein Bett und weinte.
2
„Wieder nichts, Sofia? Hast du wieder keine Arbeit bekommen?“, fragte die Mutter traurig, als die Zwanzigjährige das Esszimmer betrat. Sie war ein einssiebzig großes, zierliches, schwarzhaariges und braunäugiges Mädchen, sie war keine Schönheit, hatte jedoch ein anziehendes Äußeres und ihre Augen und ihr Gesicht versprühten eine Milde und eine Freude, durch die man auf sie auch in einer Menschenansammlung aufmerksam wurde.
Die Familie Salihi lebte in einem kleinen Dorf. Sie bewohnten ein altes, zerfallendes Holzhaus in einem Straßendorf in der Provinz. Die Familie bestand aus den beiden Eltern sowie fünf Kindern, zwei Jungen und drei Mädchen. Sofia war die älteste. Niemand aus der Familie hatte Arbeit, Sofia hatte seit ihrer abgeschlossenen Lehre als Näherin keine Anstellung bekommen, sie half sich und der Familie mit Gelegenheitsarbeiten. Die Familie lebte und überlebte vor allem durch das, was ihnen ihr Garten und ihr Kleinvieh schenkten.
Sofia setzte sich an den Esszimmertisch, an dem die Familie saß, um das Abendbrot einzunehmen. Gespannt sahen ihre Eltern und ihre Geschwister zu ihr auf.
„Nein, leider habe ich wieder keine Arbeit bekommen“, musste Sofia eingestehen und senkte traurig den Kopf. Sie stand wie ein begossener Pudel vor ihrer Familie.
Der Vater erhob sich, ging zu ihr hin und nahm sie in den Arm. „Es ist nicht deine schuld!“, wusste er ebenso gut, wie die anderen. „Es ist die Zeit, es ist die Zeit!“
Sofia lehnte ihren Kopf an seine Schulter und fing an, zu weinen. Da kam auch die Mutter zu ihr und drückte sie. „Auch Papa und Luisa haben heute keine Arbeit gefunden.“
Luisa hatte ebenfalls bereits eine Lehre abgeschlossen und seitdem keine entsprechende Arbeitsstelle mehr gefunden. Die beiden jüngeren Geschwister gingen noch zur Schule.
„Auch ich habe heute nichts bekommen!“, versuchte sie der Vater weiter zu trösten. „Es ist einfach eine schlechte Zeit.“
„Aber das geht jetzt schon seit Jahren so, dass niemand von uns Arbeit bekommt!“, schimpfte Sofia plötzlich los und befreite sich aus der Umarmung ihrer Eltern. „Wir rennen den ganzen Tag zum Arbeitsamt oder von einem Betrieb zum anderen und doch bietet uns niemand eine Arbeitsstelle an.“ Sie ging zum Tisch hinüber und zeigte auf die Speisen. „Die ganze Woche gibt es nur Kartoffeln und Gemüse, vielleicht am Sonntag mal Fleisch. Und sonst können wir uns nichts leisten, keine neuen Kleider, nichts, nichts, nichts!“ Sie stampfte wütend auf dem Boden auf.
„Es ist die Zeit, es ist einfach keine gute Zeit!“, wiederholte der Vater.
„Nein!“, meinte Sofia nach einigen Sekunden sachlich, mehr zu sich, als zu ihren Eltern. „Ich glaube, es ist nicht die Zeit. Oder hier ist immer eine schlechte Zeit. Ich glaube, es ist der Ort, das Land.“
„Das Land?“, fragte die Mutter erschrocken. „Was, was willst du damit sagen, Liebes?“
„Ach, ich weiß auch nicht!“, druckste nun Sofia herum, da sie wusste, dass ihre Gedanken ihren Eltern nicht gefallen würden. „Einige meiner Freundinnen haben Arbeit im Ausland gefunden, in Italien oder Deutschland. Sie verdienen gut und senden ihrer Familie jeden Monat viel Geld.“
Nun sahen sie die Eltern entsetzt an. „Wir wollen dein Geld nicht!“; meinte der Vater stolz. „Das kommt gar nicht in Frage, dass ich von dir Geld annehme.“
„Und wir wollen dich bei uns haben. Wir wollen doch zusammenbleiben!“
Sofia sah ihre Eltern liebevoll an. „Das weiß ich alles wohl!“, begann sie langsam wieder. „Und das ist wunderbar, das ist wunderbar, wenn man so geliebt wird. Jeder Mensch will dort leben, wo man so geliebt wird.“
Die Eltern atmeten auf und sahen sie ebenfalls liebevoll an.
„Aber es gibt in diesem Land keine Arbeit für mich!“, fügte sie hinzu. „Und ich kann euch nicht mein ganzes Leben lang auf der Tasche liegen. Ich kann nicht in einem Land leben, wo ich nicht gebraucht werde.“
Sie standen sie sich gegenüber und sahen sich ratlos und gleichzeitig erschrocken an.
3
„Angriff!“, rief der Trainer und trat einen Schritt zurück, um sich aus der Reichweite der beiden Kämpfer zu begeben. Er leitete das Taekwondo-Training in der Turnhalle der Stadt und beobachtete in den letzten Minuten des Trainings die Kämpfer an den verschiedenen Matten, um ihre Technik zu verbessern. Gleich darauf stutze er und runzelte entsetzt die Stirn.
Einer der Kämpfer stürzte sich auf seinen Gegner und streckte ihn mit dem ausgestreckten Bein nieder.
„He, was soll das! Lass den Quatsch!“, rief er im nächsten Moment, sprang zurück auf die Matte, packte den Kämpfer und trat aufgeregt zwischen die Kämpfenden.
„Bist du noch zu retten?“, fragte der am Boden Liegende und hielt sich die blutende Nase. „Bist du noch ganz dicht?“
Der Trainer hatte den Angreifer fest am Arm gepackt und sah ihn verständnislos an. „Was sollte das nun wieder, Tom?“ Er sah ihm zornig in die Augen. „Du weißt genau, dass du den Gegner nicht berühren darfst und greifst ihn trotzdem voll an. Und das ist nicht das erste Mal. Wenn das nochmals vorkommt, werde ich dich rauswerfen müssen.“ Der Trainer sah ihn mit bedauernder Miene an. „Und du bist doch einer der besten. Und das kurz vor den Meisterschaften!“
„Haste Stress mit den Weibern, Tom?“, foppte ihn ein Kämpfer von einer der anderen Matten.
Die Trainierenden hatten natürlich alle mitbekommen, was los war, hatten ihre Kämpfe eingestellt und beobachteten verwundert, was geschah.
„Ach, was!“, rief einer. „Der hat doch keinen Ärger mit Weibern. Da, wo der herkommt, gibt`s gar keine Weiber!“
Alle lachten und sahen ihn hämisch an.
Tom blickte sich mit trauriger Miene um. Dann ging er auf seinen Trainingspartner zu, sah ihn an, reichte ihm die Hand und zog ihn hoch. „Tschuldigung!“, meinte er ehrlich. „Ich versteh auch nicht, was in mich gefahren ist. Das war echt nicht gut von mir. Verzeih mir, Pit!“
Der andere sah ihn noch verärgert an und tastete nochmals seine Nase ab. „Schon gut, ist ja anscheinend nichts gebrochen!“, meinte er dann. „Gibt höchstens ein paar Tage ´ne blaue Nase.“ Er betrachtete die Kampfmatte, die voller Blut war. „Komm!“, meinte er dann. „Lass uns die Sauerei beseitigen und dann geht`s weiter. Ich bin schließlich zum Üben da und nicht, um mich auszuruhen. Das mach ich schon den ganzen Tag am Schreibtisch!“
Alle lachten und nahmen wieder ihr Training auf.
„Danke, Pit!“, meinte Tom und klopfte seinem Partner auf die Schulter.
Der sah ihn nur nachdenklich an.
Dann setzten sie das Training fort.
„Ist wohl wegen deinem Vater?“, wollte Pit später wissen, als sie am Tresen der Vereinskneipe nebeneinander Platz genommen hatten und eine Cola light tranken. „Ich will dich nicht verletzen, aber jeder weiß, dass dein Vater ein Säufer ist. Da versteh ich dich gut. Ginge mir genauso!“
„Es hat natürlich mit meinem Vater zu tun!“, begann Tom und nippte an seinem Glas. „Aber eigentlich mit unserem Hof!“
„Was meinst du?“
„Dass der alte Alkoholiker ist, ist schon schlimm genug. Und dass er sein ganzes