Wandlungen. Helmut H. Schulz
in die Politik mischenden, den politisierenden Leutnant, im Kaiserreich undenkbar.
Sich mit den Soldaten des Grabenkrieges solidarisierend, stand er zunächst aufseiten der Republik im Kampf gegen Spartakus. Anfang 1919 nach seiner Repatriierung sah sich Beharrer vor einer Leere; schließlich nahm er das geplante Studium auf, unlustig, schon am Sinn dieses Aufwandes zweifelnd. Er belegte Kunstwissenschaft, sattelte um auf Geschichte, suchte und fand an der Universität Berührung mit der jungen radikalen Linke, las allein und im Zirkel Karl Marx, studierte die Revolutionstheorien Lenins. Mitte der Zwanzigerjahre bereiste er durch Vermittlung eines KPD-Funktionärs das Don-Gebiet und andere Teile des weiträumigen Landes und brachte die Überzeugung mit nach Hause, dass eine Weltenwende nahe bevorstehe, wie Praxis und Theorie lehre; nach dem Chaos ihrer rohen, frühen Geschichte trete die Menschheit endlich und unumkehrbar in ihr neues, besseres Stadium ein, dem Kommunismus. Daraus folgte für den jungen Studenten, noch immer jung, als Konsequenz die Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei; dort wimmelte es von ihm gleichen Überläufern aus dem bürgerlichen Lager. Sein Studium brach er bald darauf aus Zeitmangel ab, auch weil er es für sinnlos hielt, kostbare Lebenszeit zu vergeuden, da ihm die Revolution alsbald große Aufgaben zuweisen würde. Die Karriere eines Propagandisten verband er halb spielerisch mit der eines Publizisten. Eine große Zahl von Zeitungen und Zeitschriften bot zahlreichen Tagesschriftstellern Gelegenheit, ihr Talent auszubilden. Ein Reisetagebuch machte ihn von der Familie unabhängig; zu Fuß und mit geringen Mitteln versehen, unter ganz anderen Umständen, als sie ihm einst versprochen worden waren, hatte er Italien bereist und sehen gelernt, mit dem Erfolg, zum gesuchten Reiseschriftsteller geworden zu sein. Der Geheimrat besaß genügend Verständnis für einen Sohn, der sich ausleben wollte; er nahm an, dass sein Sprössling bald wieder unter die Fittiche der Familie flüchten werde. Allein hierhin täuschte sich der alte Herr; der Sohn erklärte, dass seine Lebensaufgabe und Berufung in der Revolution läge. Es erstaunte ihn aber beinahe, wie leicht seine Artikel, Bücher und Aufsätze von Redaktionen und Verlagen angenommen wurden, und nicht nur von denen der linken Presse. Obschon sich seine Kenntnisse von der realen Welt genau genommen auf die Erlebnisse im Schützengraben und etwas angelesenem Wissen beschränkten, schrieb er über alles und jedes, und sagte der Konterrevolution permanent eine historische Niederlage voraus, als müsse er sich selbst unentwegt zu dem neuen Leben in dieser lichten, durch historische Regeln herbeigeschriebenen Zukunft überreden. Mit der Rache der unterdrückten Klasse nach dem Sieg werde in entsprechender Dimension zu rechnen sein.
Die Novemberrevolution war· durch ein Bündnis zwischen Bürgertum und Sozialdemokratie beendet worden; abgewürgt, wie der junge Propagandist schrieb, stranguliert; die Weimarer Republik neigte sich in der Ära des Kanzlers Brüning und den Folgekanzlern ihrem Ende zu, von der Großen Koalition zur Präsidialregierung und weiter zur Präsidialdiktatur. Zwischen Mauschelei und Klüngelei ging dieses unglückliche historische Gebilde zugrunde. Unser Held hielt sich im Januar des Jahres 1933 zufällig in Paris auf, zu einer Vortragsreise, wie er sie häufig unternahm, um gegen die neue Gefahr von rechts zu predigen, gegen ein bisher unbekanntes Phänomen, den Faschismus. Dort überraschte ihn die Nachricht von der Berufung Hitlers zum deutschen Reichskanzler. So nahe hatte er, wie andere auch, in Wirklichkeit die Gefahr die berechnend beschworen worden war, gar nicht gewähnt, Nationalsozialismus als neuartige Massenerscheinung schien Beharrer mit keinem der überkommenen und in den Marxismus integrierten Werte vereinbar. Der ehemalige Offizier, Überläufer aus dem Bürgertum und Intellektuelle hatte einen vagen und problematischen Begriff von Volk und von Volkssouveränität; er sah sich mit dem Volk als Belehrer und Erzieher verbunden; es hatte zu sein, wie er es sich dachte. Ganz sicher aber hatte dieses Volk der Weimarer Republik so eklatant versagt, dass es einer Reinigung unterzogen werden musste. Ausgerechnet den, auf Hitler bezogen; dies konnte Beharrer nicht anders als ein historisches Versagen deuten. Seinem Volk begann er sich zu entfremden, entsann sich großer Vorgänger, die krank an ihrem Vaterland geworden waren und es daher verwarfen. - Anrufe bei Freunden in Berlin verschafften ihm schnell darüber Gewissheit, was er jetzt besser unterlassen sollte. Als Publizist zählte er zu den bekanntesten und gehasstesten Leuten, zu den erklärten Feinden des Nationalsozialismus. Die Weltbühne, aber auch andere Blätter, hatten seiner kritischen und ironischen Feder wie seinen Recherchen, Spalten freigemacht. Aus vielen Gründen war es also ratsam, das vorläufige Exil zu wählen, alles weitere abzuwarten, den Generalstreik, den Aufstand des Volkes gegen die Berufung Hitlers, politische Massenaktionen gegen dieses Kabinett oder ein anderes Wunder. Da nichts dergleichen geschah, richtete sich Beharrer auf eine längere Dauer des nationalsozialistischen Interims ein, schuf zusammen mit anderen linken deutschen Emigranten eigene Informationsebenen, organisierte Verlage und eröffnete den Veröffentlichungen illegale Vertriebswege. Allein das unverbesserliche, das irregeführte deutsche Volk, schrieb der Propagandist warnend und erbittert, folge seinem Unstern; es gehe seinen Weg in den Untergang, bei Verlust aller humanistischen Traditionen. Von seiner Befangenheit gegenüber der Lage in Deutschland begriff Beharrer nichts; er fühlte sich als Deutscher, als besserer Deutscher, und es war ein aufrichtiges Gefühl, nur trennte es ihn von seinem Volk, das er hasste und liebte, und dieser Graben sollte nie wieder zugeschüttet werden.
Unter Mitwirkung der internationalen Öffentlichkeit gliederte sich das Dritte Reich die einst verlorenen Gebiete wieder an, stieg wirtschaftlich auf; der innere Widerstand zerfiel. Aus der erhofften kurzen Dauer des Hitler-Regimes waren Jahre geworden; kurzum, unser Held sah seine Sache als fast verloren an, da brach der spanische Bürgerkrieg aus. Auf die Emigration wirkte er wie ein befreiendes Signal. Der ehemalige Offizier, der Propagandist und Revolutionär, für einen Frontsoldaten schon etwas alt, reiste über die Grenze nach Spanien, den Feind suchend, den Deutschen der Legion Kondor, ebenfalls einen Freiwilligen, den einer anderen Generation und Tradition. Hier zeichnete sich die Dimension des bevorstehenden Weltkrieges schon deutlicher ab. Das Ende der spanischen Republik erlebte Beharrer nicht an der Front, sondern wieder in Paris. Dort begrüßte er den Ausbruch des Weltkrieges als Anfang vom Ende des Dritten Reiches.
Die Randstaaten Deutschlands brachen in kurzer Frist militärisch zusammen, ein Sieg schien weit entfernt. Im letzten Augenblick gelang ihm die Flucht aus dem von seinen ehemaligen deutschen Landsleuten besetzten Frankreich. Quartier bezog er in dem bekannten Moskauer Emigrantenhotel. Hinter vorgehaltener Hand erfuhr er von Säuberungen, von Massenexekutionen und Verschickungen, schob die Wahrheit jedoch ungläubig von sich weg, unfähig zu objektiver Beurteilung der Geschichte und sich selbst beruhigend; der Klassenkampf erforderte eben ungewöhnliche Mittel, etwas werde schon dran sein an den Beschuldigungen, und die Befreiung der Menschheit vom faschistischen Joch rechtfertigte inzwischen ohnehin alle Mittel.
"Vergessen Sie nicht", sagte der Mentor, sich unterbrechend, "dass diese Spaltung des Gewissens wie auch das spätere Wortgerümpel rechtfertigender Erklärungen entweder für den Terror oder für die angebliche Unwissenheit miterlebender Zeitgenossen typisch werden sollte. Was uns als Angehörige eines Volkes, das gar nicht existiert, angeht, so sollten wir die reine Lehre empfangen. Das erinnert an die Taufrituale, wie sie an den Kariben vollzogen wurden, denen christliche Missionare ihr Heidentum als eine Art Vergehen dargestellt haben mögen, aber sehen wir, wie es weiterging."
Im Großen Vaterländischen Krieg fand unser Mann eine neue, ihn ganz ausfüllende Aufgabe, als er vom Lautsprecherwagen einer Politabteilung der Roten Armee, Reden an die deutschen Soldaten der Ostfront hielt, sie über den Klassencharakter dieses Krieges aufklärend, und um sie zum desertieren zu bewegen. Bei der Gründung des oppositionellen Offizierskomitees im sowjetischen Gefangenenlager schrieb er Manifeste und beschwor die einstige deutsch-russische Waffenbrüderschaft. Für viele dieser gefangenen rat- und mutlosen Offiziere konnte er als der ehemalige Kamerad gelten, einer, der sie verstand und der weiter war als sie. Ihrer Ratlosigkeit setzte er die Vision eines freien demokratischen Deutschland entgegen, nach Bestrafung der Schuldigen. Zwar werde es nicht zu den Fehlern des Ersten Weltkrieges kommen, als die Sieger das Ziel, den deutschen Imperialismus zu bändigen, unverständlicherweise, vielmehr aus auf der Hand liegenden Gründen, preisgaben. Heute also müsse nach Beendigung der Kampfhandlungen mit einer längeren Besatzungszeit gerechnet werden, die ausreiche, neue Verhältnisse und Bewusstseinslagen in Deutschland dauerhaft anzulegen, eine konsequente und erbarmungslose Umerziehung dieses Volkes stehe auf der historischen Agenda; nie wieder käme eine Bewaffnung der Deutschen in Frage,