Der Fluch von Azincourt Buch 2. Peter Urban
hatte, die der kirchlichen Hierarchie verhasst waren, musste er zusätzlich damit rechnen, dass man im Falle seiner Festnahme die Autopsie von Montpellier eilig vergessen würde, um ihm sogleich den Prozess wegen Häresie zu machen, womit Guy der rotglühende Scheiterhaufen gewiss war.
Sidonius konnte nur annehmen, dass Chaulliac selbst an der großen und verhältnismäßig anonymen Pariser Universität am Ende der Boden unter den Füssen zu heiß geworden war. Er hatte verstanden, dass der Mann sich schon verhältnismäßig lange im Fürstentum von Ambrosius Arzhur aufhielt, wo er nicht nur Schutz vor seinen Verfolgern fand, sondern offensichtlich auch die äußerste Wertschätzung und Protektion des Herrschers hatte.
Ambrosius und sein verfemter und etwas unheimlich wirkender Freund hatten am Anfang lange die Köpfe zusammengesteckt und leise miteinander getuschelt. Sidonius fühlte, dass sie in diesen Stunden abgewogen hatte, wie weit man ihn ins Vertrauen ziehen konnte. Inzwischen hatte der junge Benediktiner begriffen, dass er seine Prüfung wohl mit Auszeichnung bestanden hatte: Nicht nur waren einen Tag nach Chaulliacs Ankunft und seinem vertraulichen Gespräch mit dem Herzog bereits Kuriere auf den besten Pferden aus den Ställen von Concarneau in alle vier Himmelsrichtungen losgaloppiert. Auch mehrere schnelle und bis an die Zähne bewaffnete Kriegsschiffe stachen in See. Die Wochen, die auf diese geschäftigen Tage folgten, waren dann allerdings ereignislos und ruhig.
Doch Sidonius genoss eine geradezu seltsam anmutende, großzügige Gastfreundschaft, die so gar nicht seinem Stand entsprach: Bei den gemeinschaftlichen Abendmählern in der großen Halle saß er nicht mit den Dienstboten und Gefolgsleuten, sondern nahm einen Platz neben Guy de Chaulliac an der herzoglichen Tafel ein. Und Ambrosius Arzhur selbst ermutigte ihn dazu, sein Studium, dass er wegen des Diebstahls von Saint Jacques gezwungenermaßen unterbrochen hatte, wieder aufzunehmen. Er hatte ihm ohne zu zögern seine beeindruckende Bibliothek geöffnet, in der sich eine erstaunlich große Sammlung seltener und seltsamer Manuskripte befand. Wenn der junge Mann nicht gerade seinen eigenen Interessen nachhing, wurde er oft in die Frauengemächer gerufen, wo Maeliennyd Glyn Dwyr, Ambrosius’ walisische Gemahlin sich mit einem eigenen, nicht weniger erstaunlichen und seltsamen Hofstaat umgab. Sidonius begegnete dort zwar auch einigen edlen Damen und ein paar jungen Frauen aus den besten Familien von Cornouailles, doch die wichtigste Gruppe bestand aus einem guten Dutzend hochgelehrt wirkender, steinalter Männer und Frauen. Er begriff schnell, dass Maeliennyd Glyn Dwyr den üblichen, höfischen Vergnügungen kaum Aufmerksamkeit schenken mochte und nur ab und an dem Drängen der jüngeren Frauen nachgab, um zur Jagd zu reiten oder Zeit mit irgendwelchen vergnüglichen Spielen oder kurzweiliger Musik und Poesie zu vergeuden. Die Herzogin war eine ernste, streng wirkende Frau, die in ihrer ganzen Art stark an seinen Freund Sévran erinnerte. Sie disputierte mit den alten Männern und Frauen und war offensichtlich in den Wissenschaften genauso bewandert, wie in der Philosophie.
Auf den weichen Seidenkissen und bequemen Lehnstühlen der Kemenate lernte Sidonius in kurzer Zeit mehr über Aristoteles, Platon oder Plinius, als in all den Vorlesungen, die er am Collegium Sorbonianum je besucht hatte. Und er machte überraschende Bekanntschaften mit naturwissenschaftlichen Werken obskurer Gelehrter aus aller Herren Länder, die er an der Universität und während seines Studiums der Theologie und der Philosophie höchstwahrscheinlich niemals anzufassen gewagt hätte. Auch verheimlichten Maeliennyd Glyn Dwyr und ihre Vertrauten ihm – dem Freund ihres jüngsten Sohnes – nicht, dass die sogenannten Ars Notoria am Hof von Cornouailles blühten.
In der Kemenate sprach man genauso über das Auslegen von Träumen, wie auch über Formen der Magie, in denen die geheimnisvollen Kräfte der Natur eine große Rolle spielten und die der junge Benediktiner aus dem Bauch heraus, als dem Reich der Legenden entstammend abgetan hätte, wenn er nicht mit eigenen Augen den Ernst der Debattierenden beobachtet hätte. Intuitiv wusste er, das er es hier mit Angehörigen der geheimnisvollen weißen Bruderschaft von Brocéliande zu tun hatte, zu der auch Sévrans alter Lehrer Aodrén und der Herzog von Cornouailles selbst gehörten.Gewiss, alles war ein bisschen fremd und sonderbar, doch er konnte nicht behaupten, dass diese Gespräche unheimlich waren, oder ihm in irgendeiner Form Angst einflößten, denn er erinnerte sich noch sehr gut daran, wie seine eigene Mutter, als er noch ein Kind gewesen war auf ähnliche Zauberkünste zurückgegriffen hatte, um seine kleinen Krankheiten und Verletzungen zu heilen, oder um dafür zu sorgen, dass der Hausgarten reiche Ernte schenkte und die Kuh immer genügend Milch gab. Und dann war da natürlich auch noch sein Freund Sévran...
Gelegentlich erholte sich Sidonius von der herzoglichen Gastfreundschaft in Gesellschaft seiner Mutter und begleitete sie bei Besuchen von Verwandten, Freunden und Bekannten in der Stadt Concarneau und in der Umgebung. Allerdings fühlte er sich bei diesen geselligen Zusammenkünften nicht immer ganz wohl, denn diejenigen, die sich noch gut an den kleinen Fischerjungen Szenec erinnerten, behandelten ihn in seiner strengen, schwarzen Kutte mit einer verwirrenden Mischung aus Ehrfurcht und Scheu und die anderen beobachteten ihn mit neugierigen Augen, wie ein besonders exotisches und seltenes Tier. In diesen Augenblicken wurde ihm immer bewusst, wie groß die Kluft war, die die Klosterschule von Hennebont und das Collegium Sorbonianum zwischen ihm und seiner Vergangenheit aufgerissen hatte. Daran änderte auch der sichtbare Stolz seiner Mutter über seinen gesellschaftlichen Aufstieg nur wenig.
Sidonius’ Verwunderung über seine eigene Situation am Hof von Concarneau wurde noch zusätzlich verstärkt, als Ambrosius Arzhur ihn an einem schönen Sommerabend zu einem Spaziergang in den Gärten der Ville Close einlud, alleine und unter vier Augen. Nicht einmal Chaulliac war irgendwo zu sehen und selbst der allgegenwärtige, diensteifrige Truchsess des Herzogs machte sich rar, nachdem er den jungen Mann zu seinem Herren gebracht hatte.
Ambrosius Arzhur wählte eine gemütliche, kleine Steinbank unter einem schönen, rot blühenden Rosenbusch als den besten Ort, um seinen jungen Begleiter darüber aufzuklären, wen er mit solch großem Aufwand nach Cornouailles holen lies, um über den Diebstahl des Flamelschen Manuskript zu beratschlagen. Die Geschichte, die der Herzog erzählte, war lange, verwirrend und gelegentlich so unheimlich, dass sie fast unglaublich schien. Es war eine Reise zurück in der Zeit...weit zurück in der Zeit und in die prächtigen Gärten und auf die blutigen Schlachtfelder von Al Andalus, in den Tagen der Blüte und des Niedergangs der maurischen Herrschaft.
Dieser geheime Bund, dem außer Ambrosius und seinem Freund Guy de Chaulliac noch neunzehn weitere Männer und Frauen angehörten, verbarg sich hinter dem Namen eines einstmals berühmten Ritterordens: Der Orden Santiago vom Schwerte. Diese Ritterschaft war von König Alfonso VIII. von Kastilien gegründet worden, um den unablässigen Pilgerstrom über den Jakobusweg nach Santiago de Compostella vor den Übergriffen maurischer Krieger und den Überfällen allgegenwärtiger Räuberbanden in der wilden Gebirgswelt von Astrurien und Kantabrien zu schützen.
Es war eine dunkle und hoffnungslose Zeit gewesen: An allen Fronten häuften sich die Rückschläge und Niederlagen der christlichen Fürsten gegen den Islam. Der zweite Kreuzzug ins Heilige Land war gänzlich gescheitert, nachdem zuerst die deutschen Kreuzfahrer in Anatolien in einen Hinterhalt geraten und vollständig aufgerieben worden waren und dann die Franzosen direkt nach ihrer Landung von einem ähnlichen Schicksal ereilt wurden, so dass drei Jahre später nur ein jämmerlicher und demoralisierter Haufen Jerusalem erreichte. Als auch noch der Versuch Damaskus zurückzuerobern in einem gewaltigen Blutbad endete, verließen die letzten Überlebenden gedemütigt und erschüttert Outremer und überließen die dort ansässigen Christen und Ritterorden ihrem Schicksal. Als Folge griffen die Truppen von Saladin gnadenlos sämtliche verbliebenen Stützpunkte und Trutzburgen der Europäer im Heiligen Land an: Einer seiner Feldherren - Schirukh von Homs - nahm Kairo ein und besetzte ganz Ägypten. Die verzweifelten Bitten um Hilfe gegen die Sarazenen, die der Patriarch von Jerusalem, Amalrich de Nesle und der Erzbischof von Cäsarea an die europäischen Herrscher richteten, stießen nach dieser letzten Demütigung lediglich auf taube Ohren. Der misslungene, zweite Kreuzzug hatte einen riesigen Blutzoll auf Seiten der europäischen Adelsfamilien gefordert. Die Ränge ihrer Vasallen und Kriegsleute waren erbärmlich ausgedünnt. Niemand konnte oder wollte noch zu einem weiteren Kreuzzug gegen die Sarazenen aufrufen Vier Jahre später landete zwar Graf Tankred von Lecce mit einer Gruppe Gefolgsleute in Outremer und der Konflikt mit den Sarazenen flammte vor Alexandria erneut auf,