Wilde Zeiten - 1970 etc.. Stefan Koenig
hatte mir aus Frankfurt Lollos Ostergeschenk mitgebracht, das Gobelin-Stickbild von Spitzweg mit dem Motiv Der Bücherwurm. Das war von meiner Mutter ja gut gemeint und das Motiv passte auch – aber wo sollte ich dieses konservativ anmutende goldene Prunkstück wohl unterbringen? Doch nicht in meinem Zimmer. Nach Ratsbeschluss aller WG-Mitglieder fand es seine letzte Ruhe im Flur über der Gefriertruhe.
Karin erzählte in der Essensrunde noch aufgeregt von der Durchsuchungsaktion an der Grenze. Die DDR-Grenzer hätten sogar mit fahrbaren Spiegeln unter ihrem Käfer und im Kofferraum nach Flüchtlingen gesucht. „Wie kann man seine Bürger nur am Ein- und Ausreisen hindern?“, fragte sie. „Das ist typisch für einen revisionistischen Staat, wo der Kommunismus verhunzt und verraten wird. Die Ideale von Marx und Engels und Lenin sind in den staatssozialistischen Ländern im Eimer!“
„Nun mal langsam, liebe Genossin von Maos Gnaden“, warf Richy, der sich diese Polemik bei ihr erlauben konnte, ein. „Also, erstens hast du in deiner Aufzählung der Heiligen und Glorreichen einen Namen vergessen: Stalin. Und zweitens gibt es kein derzeit stalinistischeres System als China. Und da möchte ich jetzt gerne, dass du mir etwas über die Reisefreiheit der 818 Millionen Chinesen erzählst.“
„Macht doch keinen solchen Hickhack!“, sagte Tommi. „Es geht doch im Grundsatz um etwas ganz anderes. Im Krieg gab es da Reisefreiheit? Nein, natürlich nicht! Und schon gar nicht als die Bomben fielen. Heute haben wir den Kalten Krieg, das heißt Wirtschaftskrieg, Propagandakrieg, psychologische Kriegsführung auf allen Ebenen, das heißt Abwerbung von Fachkräften aus dem Osten, wo für die hochqualifizierte Ausbildung enorme finanzielle Reserven aufgebracht werden müssen. Am schlimmsten ist es für die DDR, wenn Ärzte, Techniker und Ingenieure abgeworben werden. Deshalb die Grenze.“
„Ja, ja, ja“, rief Karin dazwischen, „das alles rechtfertig die Massenmenschhaltung in undurchlässigen Grenzen? Und das nennt sich Sozialismus!“
„Deine Ausdrücke sind zutiefst antikommunistisch, Frau Superkommunistin. Und deine unhistorische Darstellung ist einfach nur unverantwortlich!“, sagte Tommi. „Es ist Fakt, dass der Westen nach dem Krieg aufgrund der unbeschädigten Wirtschaft in den USA mit einem enormen Vorsprung gegenüber den zusammengebombten und verarmten osteuropäischen Gebieten starten konnte.“
Rosi saß da und lackierte sich nach dem Dessert –Vanillepudding mit Pfirsichstückchen aus der Dose – die Fingernägel mit violettem Lack. Nur gelegentlich schaute sie hoch und sagte einmal: „Regt euch nicht so auf; nichts wird so heiß gegessen, bis es kalt ist.“
„Ja, wir wissen: Nachts ist es kälter als draußen“, sagte ich, weil ich unbedingt darauf aufmerksam machen musste, dass Rosi wieder einmal ein Sprichwort so unsäglich verhunzt hatte. „Aber ich muss gestehen, es klingt lustig“, räumte ich ein und zwinkerte Rosi zu, was sie aber nicht sah, weil ihr Augenmerk wieder ihren violetten Fingernägeln galt. Plötzlich hob sich ihr Kopf und sie sagte völlig unvermittelt: „Borussia Mönchengladbach ist Deutscher Fußballmeister, erstmals. Ist das nicht was?“
Uff, stöhnte ich in mich rein. Jetzt bitte keine Fußballgeschichten. Jedenfalls nix mit Borussia Mönchengladbach.
Wir diskutierten noch eine ganze Weile über Freiheit und Freizeit. Und über die grenzenlose Freiheit eines Udo Jürgens Songs, der natürlich über den Äther in alle Zonen und Ecken der „Zone“ drang.
Was bedeutete uns hier im Westen Freiheit? Was bedeutete Freiheit dort drüben, in jenem neu aufgebauten antifaschistischen Staat, der aus allen Richtungen bekämpft und sabotiert wurde?
Freiheit für uns selbst bestand darin, unsere Vorstellungen auf Basis der gar nicht so wundersamen Wirtschaftswunder-Verhältnisse ausleben zu können. Wir konnten nach Lust und Laune die halbe Welt bereisen; uns ging es doch gut, was wollten wir mehr? Und jetzt auch noch die lockere und friedliche Ostpolitik der neuen Bundesregierung. Da drängte sich fast schon die Frage auf, ob die Alten Recht hatten mit ihrem: „Was wollt ihr eigentlich? Euch geht’s doch gut!“
Rolf ging in sein Zimmer, legte einen Song von Led Zeppelin auf – „Bring it on Home“. Dann kam er wieder raus und grinste, warum auch immer.
Schließlich waren wir uns einig, dass es uns gut ging; aber nicht allen ging es so gut wie uns Jungen. Wir kamen sogar zu der Erkenntnis, dass es uns hier im Westen schließlich auch deshalb gut ging, weil die Hauptlast der Kriegsreparationen von den 17 Millionen Deutschen in der DDR geschultert werden musste. Dass dieser Zustand da drüben zu einer explosiven Situation wie am 17.Juni 1956 geführt hatte, war für uns kein Wunder.
Auch in Westberlin explodierte etwas; nicht mit Sprengstoff – noch nicht mit Sprengstoff! – aber im gesellschaftlichen Sinne. Es sprengte die Mauern alles bisher dagewesenen. Ulrike Meinhof, die einstmals so vernünftige und von humanistischen Idolen geleitete Superkolumnistin bei Zeitungen wie der konkret, Mutter zweier Kinder, drehte durch und verhalf Andreas Baader während eines bewachten Ausgangs zur Befreiung. Baader war einer von drei Frankfurter Kaufhausbrandstiftern. Sie wollten im Oktober 1968 mit diesem Brandfanal zu mitternächtlicher Stunde, bei dem niemand verletzt wurde, gegen den Konsumterror der Großunternehmen protestieren.
Jetzt aber wurde ein Mann lebensgefährlich verletzt. Das war weder lustig noch eine revolutionäre Heldentat. Das war auch nicht humanistisch oder irgendwie sozialistisch. Das war echt Scheiße. Übrigens war dieses Wort inzwischen wenn nicht salon-, so doch gesellschaftsfähig geworden. Hatten wir es 1966 nur denken dürfen, so konnte man es nun öfter hören, als es einem lieb war.
„Es ist das falsche Signal und ein fatales Fanal“, sagte Richy, und er hatte Recht. Es war der Beginn einer Gewaltspirale, die mit der „Gewalt gegen Sachen“ begann und mit Gewalt gegen Menschen endete. Die Etablierten, die selbst so oft mit äußerster Gewalt gegen friedliche Demonstranten Brutalität vorexerziert hatten, freuten sich. Heimlich triumphierten mit ihnen die hinterfotzigen Burschen vom Verfassungsschutz.
Der V-Mann Urbach, eingeschmuggelt in die linke Szene, lieferte Molotow-Cocktails, Waffen, Sprengstoff und Drogen an die jungen Berliner Aufrührer. Alles für die Eskalation. Denn die „linke“ Szene sollte hässlich, brutal, verroht und unmenschlich aussehen.
„Eigentlich ganz wie das System“, sagte Rio Reiser, als wir ihn und seine Band wieder einmal auf ein Bierchen in ihrer Probebude besuchten. „Am schönsten wären für die herrschende Mafia Schlagzeilen wie »Rudi Dutschke erschlägt seine Mutter, »Fritz Teufel verbrennt Auto eines Schichtarbeiters« oder »Ulrike Meinhof erschießt ihre Putzfrau«. Stimmt doch, oder?“
So traurig es im Grunde war, wir mussten laut lachen.
Baader wurde zu drei Jahren Haft verurteilt. Eine der überlegenswerten Theorien über Sinn und Zweck einer ausschließlich konsumorientierten Geldwirtschaft wurde durch seine Tat grundlegend diffamiert. Ulrike Meinhof verschaffte mit ihrer idiotischen Befreiungsaktion den verurteilten Straftätern eine Art Leumundschaft. Das konnte nicht gut ausgehen.
In Karins maoistischer Ideenwelt hingegen war „Gewalt gegen Sachen ganz in Ordnung“, weil das angeblich die Arbeiterklasse nicht tangierte, es betraf ja nur das durch die Ausbeutung der Arbeiterklasse ergatterte Vermögen der Bourgeoisie. Das war wieder mal maoistische Denke vom Feinsten – aus dem fernöstlichen Lehrbuch, wahrscheinlich Lektion 1A: Wie verrenke ich mein Hirn, um jeden Scheiß gutzuheißen, wenn er denn nur dem verhassten Establishment schadet.
Dass solche Aktionen von „den Massen“, deren Herz und Hirn Karin angeblich erobern wollte, weder verstanden noch gebilligt wurden, kam in solcher Politdenke einfach nicht vor. Dennoch respektierten wir unsere unterschiedliche Sicht der Dinge und liebten uns. Ganz nach dem Motto: Gegensätze ziehen sich an.
Und was zog Karin plötzlich an einem Abend vorm Zubettgehen erst an und dann aus? Ein Wegwerfhöschen! Unglaublich! Das war der Mode-Hit der Urlaubssaison: rein, raus, in den Müll. Für Mädchen mit Sinn für Ulk gab es sie auch bedruckt, mit Herzchen, dicken Lippen und Kussmund, mit Motiv-Rose oder Kleopatra-Auge. Was Mao Tse-tung wohl davon hielt? Ich fragte Karin lieber nicht.
Wir blätterten noch in allerhand revolutionären