Wilde Zeiten - 1970 etc.. Stefan Koenig

Wilde Zeiten - 1970 etc. - Stefan Koenig


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Rhabarberstang/ da macht er die kleinen Kinder mit bang. Karin und ich fanden den letzten Reim irgendwie schräg. Da waren die anderen Reime weniger verfänglich. Lakritzen, Lakritzen/ die Mädchen haben Ritzen/ die Jungen haben ‘n Hampelmann/ da ziehen die Mädchen gerne dran. Dass das eigentlich gar nicht so ganz stimmte, wussten wir aus dem Kinsey-Report.

      Karin und ich mussten lachen, als wir weiterlasen: In der Nacht, in der Nacht/ wenn der Büstenhalter kracht/ und der Bauch explodiert/ kommt das Kind herausmarschiert.

      Ganz früher, mit acht, neun und zehn Jahren, hatten sich mein Schulfreund Pit und ich noch gefragt, wo denn nun das Kind herausmarschieren würde. Wir waren damals zu keinem Ergebnis gekommen. Ich war der Ansicht, es käme aus dem Nabel; Pit hatte eine entschieden exkrementelle Vorstellung von der ganzen Sache, was ich für extrem unsauber hielt und abwies. Es sollte sich aber zeigen, dass mein Freund der Wahrheit schon rein geografisch sehr viel näher gewesen war.

      Um einen anderen Reim ging es im Brief, den meine Mutter an Günter und mich gerichtet hatte. Da mein Bruder und ich uns sowieso demnächst treffen wollten – er wohnte nur fünf Bushaltestellen von unserer WG entfernt – hatte sie das Porto gespart und uns einen Gemeinschaftsbrief geschrieben. Typisch Lollo, die sparsame Schwäbin. Er enthielt eine in Gedichtform gehaltene Lobpreisung auf ihre Freundin Elsbeth, der Rindswurst-Tante aus der Unternehmer-Familie Gref-Voelsing. Dass Lollo dichten und reimen konnte, war mir neu. „Die Rindswurst-Hymne“ belehrte mich eines Besseren.

       Die beste Rindswurst auf der Welt

       Ist die Gref-Voelsing’s, die gefällt

       Den Augen und dem Magen,

       Die sie so gut vertragen.

       Sie ist so glatt, so rund und braun,

       Wir können sie so gut verdauen,

       Geschmacklich einwandfrei und klasse,

       Sie schmälert nicht mal unsre Kasse!

       Wir essen sie gar willig –

       Besonders weil sie billig:

       Denn unsre Elsbeth sie spendiert

       Und uns zum Essen dann verführt.

       Ein Lob drum

       Dieser Wurst vom Rind,

       Die gern im Magen-Labyrinth

       Von Vater, Mutter, Kind verschwindt.

       Wir danken

       Unsrer Elsbeth

       Denn sowas

       Das ist sehr nett!

      Auch Willy Brandts Regierung war sehr nett. Gemäß ihrem Leitsatz „Mehr Demokratie wagen“ setzte sie per Grundgesetzänderung das Wahlalter herunter. Von nun an waren Achtzehnjährige alt genug zu wählen und Einundzwanzigjährige reif genug, gewählt zu werden. „Schade, dann muss ich noch bis September warten, bis ich dich als potentiellen Außenminister wählen kann“, sagte Karin.

      „Dann müssten aber auch pünktlich zu meinem Geburtstag Wahlen sein“, gab ich zu bedenken. „Wichtiger ist mir im Moment, wo ich mich bewerben könnte, um meinem Traumberuf als Journalist näher zu kommen.“

      Karin schnipste wieder mal mit den Fingern. „Ich wollte es dir schon die ganze Zeit zeigen…“, und sie kramte unter ihren Schulunterlagen eine Zeitschrift hervor mit dem Namen „Bundesdeutsche Tabus“, verlegt von einem Dr. Wilhelm Duwe.

      „Schau mal die Anzeige hier, die suchen einen Volontär ab Herbst dieses Jahres. Da hätten wir noch genug Zeit, im Sommer unsere Freunde auf ihrem Hippie-Trail in Torre zu besuchen. Und du könntest dich schrittweise vom Soli-Verband zurückziehen.“

      Schon am nächsten Tag rief ich beim Dr. Duwe Verlag an. Eine vornehm klingende Damenstimme meldete sich und reichte mich dann weiter: „Wilhelm, für dich!“

      Dann hatte ich den Chef persönlich am Apparat; wir machten einen Termin für Ende des Monats aus. Ich möge bitte eine Bewerbungsmappe zusammenstellen. Klar doch, das war ein Heimspiel, dachte ich.

      Vorher aber musste ich nach Frankfurt. Zum Geburtstag meiner Mutter setzte ich mich in den Interzonenzug und besuchte sie und ihr Damenkränzchen, das ich tatsächlich schon ein wenig vermisst hatte.

      Lollos Freundinnen trafen sich in unserem Stadthaus. Wie immer hatte ich vorher schnell die Straße gekehrt, damit keine der reichen und stolzen Unternehmergattinnen über einen Kiesel stolperte oder gar einer unangenehmen Begegnung mit einem Zigarettenstummel ausgesetzt war. Und wie immer trudelte als erstes die Schreiner-Friedel ein. Ihr Mann hatte in den letzten Jahren Bornheims größte Holzhandlung und Schreinerei erweitert und zur Dachdeckerei ausgebaut.

      Der Mai war außergewöhnlich kühl, aber zu Mutters Geburtstag schien die Sonne recht kräftig. Passend hierzu hörte man gerade aus dem Küchenradio, was Lollo immer eingeschaltet ließ, den Song Here comes the sun von den Beatles. Ihr Lieblingssender war der Hessische Rundfunk, und die spielten schon den ganzen Tag über die Beatles – wahrscheinlich aus Trauer über Paul McCartneys Abgang.

      Die Freundinnen meiner Mutter redete ich seit jeher mit „Tante“ an. Als ich Tante Friedel die Tür öffnete, sagte sie den mir allzu bekannten Spruch: „Na, mein Junge, was bischt du wieder gewachsen!“ Sie schwäbelte ein wenig wie meine Mutter, was kein Wunder war, da beider Wiege dort gestanden hatte.

      Diesmal konnte ich der Wahrheit zuliebe nicht über diese geläufige Floskel der alten Dame hinweglächeln.

      „Ich bin, ehrlich gesagt, seit einem Jahr nicht mehr gewachsen“, sagte ich.

      „Möglich, bischt aber trotzdem ein langer Lulatsch g‘worden. Bei welchem Zentimetermaß bischt du denn stehengeblieben?

      „Bei ein Meter und einundachtzig.“

      „Du siehst heute ja richtig schick aus“, meinte Friedel. Das kam gewiss daher, dass ich schon seit langem kein Gammler-Outfit mehr trug, diesmal auch nicht den obligatorischen Parka mit Ostermarsch-Stickern. Friedel sah mich bewundernd von oben bis unten an. Ich trug eine Jeans-Schlaghose, darüber ein kurzärmliges weißes Hemd, was ich über dem Gürtel trug.

      „Ausch dir wird ja noch was Ordentliches. Ich hab’s doch immer schon gewusst. Nur das Hemd würde ich in die Hose stecken, wo es hingehört.“

      Ich fühlte mich leicht verkohlt. Warum sollte eigentlich „nichts Ordentliches“ aus mir werden? Vor einem Jahr wäre mir diese sachliche Gegenfrage noch nicht über die Lippen gekommen. Wahrscheinlich hätte ich motzig-rebellisch reagiert.

      „Gehörscht du immer noch zu den rebellischen Dauerdemonschtranten?“

      „Ach, Tante Friedel! Demonstrieren ist doch ein Grundrecht.“

      „Das muss man ja nicht ausreizen. Wir haben in unserer Jugend doch auch nicht demonstriert; wir waren brave Mädchen und ordneten uns dem Staat und den erfahrenen Erwachsenen unter.“

      Ich glaube bis heute, dass sie wirklich niemals darüber nachgedacht hat, wie die deutsche Geschichte hätte verlaufen können, wenn die ganze Jugend in den verschissenen Dreißiger Jahren gegen die braune Pest aufgestanden und demonstriert hätte. Stattdessen mutierten sie zu gehorsamen Lämmern eines Schlächters, der ihnen nur verbrannte, blutbesudelte Erde hinterließ. War das heute, nur fünfundzwanzig Jahre später, so schwer zu begreifen? Konnte man davor so sehr die Augen zukneifen?

      Wieder einmal – wie bei allen Damenkränzchen in den vergangenen Jahren – hatte ich zuvor das Esszimmer gesaugt, den großen Ausziehtisch aufgeklappt, mit dem schmucken und teuren Goldrand-Porzellange­schirr eingedeckt und den Kaffee in zwei Thermoskannen vorbereitet. Meine Schwester Ulla blieb wie üblich außer


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