Rock wie Hose. Holger Hähle
evolutionäres Erbe als Rudeltier lebt in uns. Unsere Instinkte begrüßen gruppenkonformes Verhalten. Wir sind unter Umständen für das Bestehen vieler Konventionen mitverantwortlich. Wenn wir die Gesellschaft weiterentwickeln wollen, müssen wir uns diesen Instinkten und Prägungen stellen, indem wir ihre Gültigkeit hinterfragen.
Es ist bemerkenswert, wie ein Kleidungsstück zur falschen Zeit, am falschen Ort, am falschen Körper für Aufregung sorgt. Von wegen, der Rock ist nur Ausdruck des persönlichen Geschmacks. In Abwandlung eines Zitats aus dem Gedicht Sacred Emily von Gertrude Stein muss ich feststellen: Ein Rock ist kein Rock ist kein Rock.
Ich will wissen, wie frei wir in unseren Entscheidungen dort sind, wo wir durch die Gesellschaft so geprägt werden, dass ein gesellschaftskonformer Verhaltensdruck entsteht. Wenn mir schon, trotz logischer Argumente, die Entscheidung für Rock oder Hose schwerfällt, wie sieht es dann mit den großen, gesellschaftspolitischen Entscheidungen aus, die beizeiten über Krieg und Frieden entscheiden? Wenn wir schon bei kleinen Herausforderungen ins Schwitzen kommen, können wir dann trotzdem Großes bewegen? Wie unabhängig und frei bin ich in meinen Entscheidungen? Wie viele Deutsche haben in den dreißiger Jahren Schlimmes heraufziehen sehen, aber geschwiegen, weil es ihrer Prägung zu gesellschaftskonformen Verhalten widersprach? War die vielleicht selbstverschuldete Unfreiheit der schweigenden Mehrheit das größere Übel?
Die Frage: ‚Rock oder Hose?‘, ist mir zu allererst eine Frage des persönlichen Geschmacks und der Bequemlichkeit. Bei sommerlichen Temperaturen ist ein weitgeschnittener Rock bequemer als jede Hose. Aber als Mann muss ich mich bei der Entscheidung Rock statt Hose ganz im Gegensatz zu Frauen rechtfertigen. Praktische Vorteile werden nicht so einfach akzeptiert. Der Rock für Männer ist heute ein Politikum. Ich behaupte: Männer müssen genauso wenig eine Frau werden um Rock zu tragen, wie Frauen nicht Männer werden mussten, um das Recht auf Hosen durchzusetzen.
Dies Buch ist ein Plädoyer für eine grundsätzliche Skepsis gegenüber Regeln, von denen wir unser Leben bestimmen lassen. Eine regelmäßige Evaluation hilft, sie zeitgemäß auszurichten, um sie unseren Bedürfnissen exakter anzupassen oder gegebenfalls ersatzlos zu streichen. Konventionen dienen dazu, uns das Leben leicht und friedlich zu machen, und nicht umgekehrt. Wir dienen nicht den Konventionen, damit sie uns als Mensch einschränken. Zuerst kommt der Mensch und dann seine Geschlechtlichkeit. Männer und Frauen verbindet mehr, als dass uns geschlechtliche Merkmale trennen. Dass wir das häufig anders wahrnehmen, liegt an unserer unkritischen oder passiven Zustimmung zu einer gewohnten Rollenverteilung, die trennt, statt auf das gemeinsame menschliche Potenzial zu fokussieren. Ich bin überzeugt, der Rock für Männer kann wie die Hose für Frauen zu mehr Normalität zwischen den Geschlechtern beitragen. Als Mensch ertrage ich es jedenfalls nicht, auf das Mannsein reduziert zu werden.
01 Ein Karnevalsspaß mit Nachspiel
In Deutschland ist Karnevalssaison. In den Hochburgen regieren die Jecken. Gestern war Rosenmontag. Wie jedes Jahr zogen bunte Umzüge durch die Innenstädte. Ich sichte die Beiträge in den Medien und bei YouTube. Auch in diesem Jahr will ich die Karnevalsimpressionen zu einem kleinen Film zusammenschneiden und meinen Schülern und Studenten zeigen. Die sind immer sehr neugierig auf deutsches Kulturgut und alles, was von kulturellen Unterschieden zeugt, je verrückter desto besser. Ich bin mir sicher, dass ihnen mein Spezialunterricht zum Karneval gefallen wird.
Deutsche Feiertage, Traditionen und Zeitgeist baue ich gerne in meinen Unterricht ein. Weihnachten war der letzte Höhepunkt. Bei meiner Mutter hatte ich dafür Weihnachtskalender bestellt. Als die hier in Taiwan ankamen, war die Schokolade teilweise ausgelaufen. Der Begeisterung tat das keinen Abbruch. Mit großer Neugierde öffneten die Schüler die Kläppchen, um zu schauen, ob dahinter eine Kerze, ein Stern oder anderes steckte. Solche Aktionen beleben meinen Unterricht. Sie geben der deutschen Sprache, die hier gelernt wird, ein Gesicht.
Weil meine Schüler neugierig sind auf Deutsch als Sprache und auf das ganze Drumherum, haben sie sich für das Wenzao Ursuline College of Languages in Kaohsiung entschieden. Hier in Taiwan sind wir die einzige Bildungsinstitution, die eine Sprachfachschule mit einem College verbindet. Seit 2014 gehört auch eine Universität für Fremdsprachen zum Campus. Der erfolgreiche Besuch des fünfjährigen College endet mit dem Associate of Arts. Der Abschluss qualifiziert für ein verkürztes zweijähriges Fachhochschulstudium, das mit einem Bachelor of Arts abgeschlossen werden kann. Externe hochschulberechtigte Bewerber für ein Sprachenstudium an der Wenzao-Universität haben acht Semester reguläre Studienzeit vor sich. Neben Deutsch können als Hauptfach Englisch, Japanisch, Französisch und Spanisch belegt werden. Im Nebenfach sind weitere Sprachen wie Russisch oder Vietnamesisch möglich.
Abb. 01: Foto vom Wenzao-Campus
Als eine Gründung des Ursulinenordens sind wir eine katholische Privatschule bzw. private Fachhochschule. Von 1966-1980 wurden ausschließlich Mädchen und Frauen unterrichtet. Nach Abstimmung mit der Kultusbehörde werden seit 1980 auch Jungen aufgenommen. Aktuell liegt der Frauenanteil bei ungefähr neunzig Prozent.
Seit vier Jahren unterrichte ich mit meiner Frau in Kaohsiung, der zweitgrößten Stadt Taiwans, im Süden der Insel. Die Stadt kannte ich bereits von Familienbesuchen. Meine Frau hat hier ihre Kindheit verlebt. Ich hatte also eine ungefähre Vorstellung darüber, was für eine Umgebung mich erwartet.
Ich bin gerne hier. Alles ist sehr ähnlich. Wenn nicht überall Neonreklamen und Geschäftsschilder in chinesischen Schriftzeichen zu sehen wären, könnte Kaohsiung auch eine Stadt in Europa sein. Dass ich in Taiwan nichts vermisse, merke ich auch an der Struktur des Gesundheitswesens. Bei jedem Arztbesuch ist eine Eigenbeteiligung zu leisten, die der deutschen Praxisgebühr gleicht.
Unterschiedlich, aber sehr angenehm ist das Klima. Es ist nicht so wechselhaft, wie ich es aus Norddeutschland kenne. Auch ist es nie kalt. Ich kann sogar im Winter im Meer schwimmen. Die Meerestemperatur schwankt übers Jahr zwischen 22 und 30 Grad Celsius. Ich habe ein Paradies zum Wellenreiten fast vor der Haustür, mit echten Dünungswellen statt Windseen wie in der Nordsee. Neopren wird absolut nicht gebraucht.
Wegen der tropischen Temperaturen werden überall Klimaanlagen eingesetzt. In Wenzao gibt es in jedem Klassenzimmer eine Klimaanlage. Man muss eine Guthabenkarte einstecken, um sie anzuschalten. Die Schüler kaufen die Karten gemeinschaftlich und stimmen ab, ob sie die Klimaanlage benutzen wollen oder nicht. Nur im Winter, wenn die Temperaturen unter dreißig Grad liegen, höre ich öfter ein „Nein“. Unterricht ohne Klimaanlage fällt mir schwer. Wegen der hohen Luftfeuchtigkeit ist man sehr schnell durchgeschwitzt. Jetzt im Frühjahr ist es mit durchschnittlich 26 Grad etwas milder.
In zwei Klassen des fünfjährigen College werde ich heute meine Karnevalsfolien präsentieren. Zum ersten Mal habe ich das vor vier Jahren gemacht. Damals in der Abschlussklasse. Damals wie heute erzähle ich von den christlichen und den heidnischen Ursprüngen des Karnevals. Ich stelle die unterschiedlichen Traditionen vor und vergleiche die Umzüge von Rio de Janeiro und Venedig sowie vom rheinischen und alemannischen Karneval.
Je nach Jahrgangsstufe verbinde ich das Thema mit grammatischen Übungen. Auf einem Slide zeige ich verschiedene Kostümierungen. Zwei Bilder zeigen den CSU-Landespolitiker Markus Söder. Seine Verkleidungen sind sehr gelungen. Ich persönlich mag die Verkleidung als Punk besonders. Der Kontrast beeindruckt gerade bei einem konservativen Politiker. Auf einem anderen Bild zeige ich ihn in einem weißen Kleid als Marylin Monroe. Die Schüler müssen dazu Fragen beantworten:
1 Welches Kostüm gefällt Ihnen am besten?
2 Welches Kostüm würden Sie selbst gerne zum Karneval anziehen?
3 Welches Kostüm empfehlen Sie ihrem Nachbarn?
4 Welches Kostüm empfehlen Sie dem Lehrer?
Einige Schüler wählen für sich die Schuluniform. Sie glauben, sie könnten so zum Rosenmontag gehen. Also erkläre ich ihnen, dass für sie Schuluniform, wie an allen Schulen des Landes zur Alltagskleidung der Schüler gehört. Genauso sei eine Polizeiuniform für einen Polizisten auch keine Verkleidung. Erst wenn ein Polizist eine Schuluniform und ein Schüler